Memoiren eines unbeugsamen Christen, Folge 9
Abbé Pierre

Nach meiner Priesterweihe durfte ich mehrere Monate am Institut Catholique in Lyon einige Kurse besuchen. Einer meiner damaligen Lehrer war Henri de Lubac. Er war es, der auch bei meiner Primiz assistierte, und er blieb bis zu seinem Tod, kurz nachdem er 1983 zum Kardinal erhoben worden war, mein Seelenführer. Im Jahr nach meiner Weihe wurde ich wieder von meiner Krankheit heimgesucht, und die Ärzte verschrieben mir Gebirgsaufenthalt. De Lubac und andere rieten mir, Rom um Dispens vom Orden und einen der Bischöfe der Gebirgsbistümer um Eingliederung in dessen Diözesanklerus zu bitten. Ich erhielt Dispens, und der Bischof von Grenoble nahm mich in sein Presbyterium auf. Das ist nun sechzig Jahre her, und er ist seither mein kirchlicher Vorgesetzter. Ich wurde dann natürlich eine Wildgans und habe seither nur sehr wenig Zeit in meinem Bistum verbracht. Als Krieg und Niederlage kamen, lag ich mit Brustfellentzündung im Krankenhaus, sodass ich am zuweilen heroischen Zusammenbruch 1939/40 nicht teilnehmen konnte.

Als ich wieder einigermaßen hergestellt war, ernannte mich der Bischof zum Domkaplan in Grenoble. Ein weiteres Blatt in meiner Lebensgeschichte wurde mit meinem Eintritt in die Résistance, den nationalen Widerstandskampf, aufgeschlagen. Das geschah tatsächlich nicht aus einem politischen Motiv heraus, sondern wegen der rassistischen Verfolgung der Juden, von der ich zu Beginn dieses Buches gesprochen habe. Als die Befreiung kam, wurde ich zum Abgeordneten gewählt, und damals wurde, wie oben geschildert, meine Emmaus-Bewegung geboren.

So hat sich von Stufe zu Stufe mein naiver Kinderglaube in einen persönlich verantworteten gewandelt, der zum tragenden Motiv der wichtigsten Entscheidungen meines Lebens wurde. Wenn ich jetzt auf diese lange Reise zurückschaue, darf ich gestehen, dass mein Leben in erster Linie ein Leben des Glaubens war. Eines Glaubens, der von Liebe untrennbar ist, wie ich im Folgenden zu erklären versuche.

Was heißt glauben?

Der Titel dieses zweiten Teils, „Gewissheit des Unwissbaren“, mag überraschen. Doch wenn man die gelebten Glaubenswirklichkeiten näher bedenkt, erstrahlt diese Gewissheit in einem überwältigenden Licht.
Nehmen wir zum Beispiel Therese vom Kinde Jesu: Leidend und dem Tode nahe wurde sie in der Krankenabteilung ihres Klosters in Lisieux gepflegt. In schlaflosen Stunden komponierte sie gern Liedstrophen und kritzelte sie auf kleine Papierfetzen. Als ihre Pflegeschwes­ter eines Tages einige dieser Kritzeleien entzifferte, sagte sie: „Schwester, dass Ihnen ein so großer Glaube und solche Gottesliebe geschenkt ist, dass er Sie so herrliche Dinge schreiben lässt!“ Da murmelte die Sterbende nur: „Schwester, ich besinge bloß, was ich gerne glauben würde.“

Der Glaube ist die Gewissheit einer nicht evidenten Realität. Um das zu verstehen, wollen wir ihn mit der Liebe vergleichen.
Zwei Menschen, die miteinander das Leben teilen, mögen sich ihrer gegenseitigen Liebe völlig gewiss sein, trotz zuweilen von Müdigkeit und Ärger geprägter und schwieriger Zeiten. Solche Gewissheit kann nicht bewiesen werden, und doch ist sie innerlich erfahrbar. Das ist genau bei der heiligen Therese der Fall. Sie besingt in ihren kleinen Liedlein die Ge­wiss­heit ihres Glaubens, von Gott geliebt zu sein, während dieser gleichwohl ihr unwissbares Geheimnis bleibt.

Eines Tages sagte mir einer meiner zahllosen Neffen: „Onkel, wie kann man sich denn das vorstellen, dass Gott sich um einen jeden von uns kümmern soll? Jetzt sind wir doch schon sechs Milliarden Menschen auf Erden – wie stellt er das denn nur an?“ Ich gab ihm zur Antwort: „Gott IST. Gott umfängt uns, und wir haben unsere Existenz ja nur deshalb, weil Er bei uns ist. Weil Er will, dass wir seien, deshalb sind wir. Wollte Er das nicht länger wollen, so wäre es mit unserer Existenz zu Ende. Die Atmosphäre, die Luft, die uns umgibt und jedes Lebewesen am Leben erhält, ist doch ein guter Vergleich für das Geheimnis, das wir ,Gott‘ nennen: Er ist wie sie überall. Er ist wie sie in allem. Alles ist nur dank Ihm und in Ihm, und doch bleibt Er unwissbar.“

Ein weiteres Beispiel: Man hat oft über Fran­çois Mitterrand (1916-1996, franz. Staatspräsident von 1981 bis 1995, Anm.) gerätselt seit der Zeit, da er 1981 die große politische Verantwortung als Präsident übernahm, und besonders seit er gestorben ist. Glaubte er an Gott oder glaubte er nicht? Er zeigte es nicht und ging nie zur Messe, wie etwa ein de Gaulle. Man wusste zwar, dass er eine christliche Erziehung genossen und dass er Schüler katholischer Schulen gewesen war. Mit zunehmendem Alter ließ er zuweilen kurze belanglose Worte fallen, die doch zeigten, dass er sich über ein Jenseits Gedanken machte.

Mehrere Male hat er mit mir seine Gedanken über den Tod ausgetauscht. Diese Frage war – wie alle seine Freunde wissen – die große Frage seines Lebens. Sie hatte nichts mit Todesfurcht zu tun. Es war bloß die große Neugier eines hochkultivierten wissenschaftlichen und philosophischen Geistes, eine nimmermüde Neugier in Bezug auf alles und jedes. Er wünschte bei vollem Bewusstsein zu sterben. Man hat mir versichert, dass er am Ende jede Medizin oder Droge verweigerte, weil er sein Leben nicht künstlich zu verlängern wünschte. Als einer seiner Freunde ihm die Frage stellte: „Was wirst du denn dem Petrus sagen, wenn du an sein Tor gelangst?“, antwortete er: „Er wird mir dann sagen: ,Jetzt weißt du’s!‘“

Ist das nicht der Gedanke eines ans Jenseits Glaubenden? Dann werde ich wissen, was ich jetzt noch nicht weiß. „Ich werde wissen“ setzt doch eine Weiterexistenz voraus, damit mir dann Kenntnis der letzten Wirklichkeit geschenkt werden kann. Mit anderen Worten: Solange ich in den Schatten dieser Zeitlichkeit gefangen bin, kann ich mich gewiss meiner hiesigen Gewissheiten erfreuen, doch beziehen sie sich auf Unwissbares. (…) Fortsetzung folgt

Während meiner letzten Unterhaltung mit ihm, die drei Stunden dauerte, fragte er mich: „In Ihrem so langen und so ereignisreichen Leben mit seinen Härten und Freuden: Haben Sie da nie Glau- benszweifel gehabt?“ Ich antwortete ihm, dass ich als sechzehn- und siebzehnjähriger junger Erwachsener wohl alles total bezweifelte und in Frage stellte, was man mir beizubringen versuchte. In der Folge jedoch verjagte der Glaube jeden Zweifel. Doch trotz dieses Sieges über den Zweifel hätte ich mein Lebtag nie aufgehört, mich dem Bündel meiner unablässigen Fragen zu stellen.

Wenn meine Gefährten auf den Glauben zu sprechen kommen, kommt es oft vor, dass sie mich fragen: „Was ist denn ‚Gott‘“? Ge- wöhnlich gebe ich ihnen in etwa zur Antwort: „Erinnere dich daran, wie du eines Tages todmüde zu uns heimkamst. Es war frostig kalt, du hattest nichts im Magen und brachtest für unsere Emmaus-Ge- meinschaft auch gar nichts mit. Den ganzen langen kalten Tag hatten wir mit dem Tapezieren einer kläglichen Mansarde verbracht, um für ein paar verlotterte Greise eine einigermaßen bewohnbare Unterkunft herzurichten. Bei der Heimkehr sagtest du mir: ‚Pater, das war ein glücklicher Tag!‘ Und jetzt kannst du mich noch fragen, was Gott sei! Hast du denn jenen Freudentag vergessen, eine so eigenartige, von den gewöhnlichen Vergnügungen so völlig verschiedene Freude, die du an jenem Abend verspürtest? Damals hast du das herrlichste Geschenk erlebt, das einem Menschen zuteilwerden kann. Theologen geben ihm den Namen ‚Gabe der Weisheit‘; das heißt nicht etwa, dass man keine Dummheiten mache. Das Wort ‚Weisheit‘ (im Französischen sagesse) kommt vom lateinischen Wort ,sapere‘, und dieses Wort heißt ,verkos- ten‘ oder‚gustieren‘. In jener Stunde hast du nämlich gekostet, wie herr- lich es ist, jemandem Liebe zu schenken. Damals bist du deinem Gott begegnet, der in deinem Herzen sein Lied gesungen hat. Du kannst ganze theologische Bibliotheken studieren und deinen Kopf mit Ideen über Gott füllen, doch würdest du Ihn noch ganz und gar nicht ken- nen. In der Erfahrung jener eigenartigen Freude, einer unbeschreibli- chen und unsagbaren, hast du jedoch deinen Gott gekostet. Nach der christlichen Botschaft gibt es keinen Unterschied zwischen Glauben und Lieben, denn der christliche Gott ist die Liebe selbst.“

Ich glaube nicht an Gott. Hingegen glaube ich, dass Gott Liebe ist, trotz allem, was dem zu widersprechen scheint. Sein Sein selbst ist Lieben. Die Liebe ist sozusagen seine Substanz. Das ist auch der Grund, weshalb ich meine, die einzige fundamentale Kluft, die die Menschheit in zwei Lager trennt, verlaufe nicht zwischen denen, die man„Gottgläubige“, und jenen, die man wie sie sich selber„Ungläubige“ nennt. Sie verläuft vielmehr zwischen egozentrischen„Selbstanbetern“ und den solidarisch sich verschenkenden „Gemeinschaftsmenschen“, die sich anderen zur Verfügung stellen. Das heißt zwischen solchen, die der Not ihrer Mitmenschen den Rücken kehren, und jenen, die kämpfen, um sie davon zu befreien. Zwischen solchen, die lieben, und denen, die ihr Herz verschließen. Nie werde ich Michel Coluche9 ver- gessen können. Ein paar Monate vor seinem frühzeitigen Tod trafen wir uns bei der„Aktion für die Hungernden“. Ich feierte auf Verlangen seiner Mutter seinen Trauergottesdienst.

Die Jugend trauerte um ihn dankbar, dass er unsere selbstsüchtige und hochnäsige Gesellschaft wirkungsvoll entlarvt hatte. Er war ein Zeuge, der unsere kollektive Heuchelei denunzierte und zur Tat schritt. Er war ein echter „Gemeinschaftsmensch“, ein sich solidarisierender „Mann für den Nächsten“.
Michel Coluche, 1944–1986, populärer Fernsehentertainer, Gründer der französi- schen Aktion„Restaurants du Coeur“, die Wikipedia zufolge noch im Jahr 2008, also zwanzig Jahre nach dem Tod des Gründers, mithilfe von 40.000 freiwilligen Helfern sechzig Millionen kostenlose Mahlzeiten an hungernde Einkommenslose verteilte, also im Schnitt täglich an die 180.000 (Anm. d. Übers.).

Besteht nicht die übergroße Zahl der scheinbar„Ungläubigen“ bei uns aus Menschen, die im Gottesbild der„Gläubigen“ nur ein falsches Bild zu sehen bekommen? Die Gotteslästerungen, die massenwei- se von der Erde zum Himmel geschleudert werden, richten sich oft nicht an den wirklichen Gott, den Gott der Liebe. Sie werden fal- schen Göttern entgegengeschleudert, den Götzen unserer Egoismen, unserer Heucheleien, unserer politischen Interessen.

Autor:

Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt

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