Memoiren eines unbeugsamen Christen, Folge 7
Abbé Pierre

Mit sieben oder acht Jahren aß ich einmal heimlich Konfitüre. Als der Mangel entdeckt wurde, verdächtigte man einen meiner Brüder, und ich hütete mich, mich als der wirkliche Täter zu stellen. Als man aber schließlich doch auf mich kam, wurde mir verboten, am nächsten Familienfest draußen am Fluss teilzunehmen. Dieses regelmäßige Treffen mit all unseren sehr wohlhabenden Cousins war immer eine äußerst tolle Sache, denn sie hatten stets die neuesten noch nie gesehenen Spielzeuge. Als am Abend meine Geschwister vom Fest heimkamen, rannte einer meiner Brüder auf mich los und schilderte mit höchster Begeisterung all die tollen Sachen. Doch ich kehrte ihm nur meinen Rücken zu und sagte verächtlich: „Meinst du, es macht mir das Geringste aus, dass ich nicht dabei war?“ Ich höre mich noch heute, als ob es erst heute früh geschehen wäre.
Gleich darauf schnappt mich mein Vater beim Ärmel, schimpft nicht mit mir, gibt mir keine Strafe, sondern schiebt mich nur traurig und betrübt in sein Zimmer und sagt bloß: „Ich habe gehört, was du da sagtest. Das ist ja ganz schrecklich. Bist du nur dir selber wichtig? Kannst du die Freude der andern nicht teilen, um selber wieder froh zu werden?“ Da brach plötz­lich eine ganze Welt in mir zusammen, um einer neuen und besseren Platz zu machen. Es kam mir vor, als ob ich in einem fins­teren Verlies gesteckt und ein Sturm Fens­terläden und Fenster weggeblasen hätte, um mir einen neuen Lebenshorizont zu zeigen. Die Trauer und der Schmerz meines lieben Vaters öffneten mir die Sicht auf eine neue Wirklichkeit, die in Liebe und Güte und miteinander Teilen besteht. „Bist du glücklich, so bin ich es auch, doch wenn es dich schmerzt, tut es auch mir weh.“

Diese Anekdote hat mich stark geformt. Ebenso eine zweite ein paar Jahre später. Eines Sonntagmorgens lud unser Papa einen meiner Brüder und mich ein, ihn zu begleiten. Wir hatten ihn jeden Sonntagmorgen verschwinden gesehen, doch nie gewusst, wohin er ging. Wir kamen mit ihm in einer der schmutzigen und verwahrlosten Lyoner Vorstädte in ein Lokal, in dem sich an die vierzig verlauste Bettler, Landstreicher und Tagediebe einfanden, sowie fünf oder sechs bessere Herren, alles Freunde unseres Vaters und gutbürgerlich wie er selber, Geschäftsleute und ein pensionierter General. Niemand von ihren Familien hatte eine Ahnung von dem, was diese Herren allsonntäglich betrieben.

Sie hatten eine Vereinigung gegründet, die sie verpflichtete, sich dieser verkrachten Existenzen anzunehmen. Sie schnitten ihnen die Haare, rasierten sie und be­sorg­ten die Wäsche, die sie am nächsten Sonntag fein säuberlich gewaschen und gebügelt mitbrachten, natürlich mit einer finanziellen Zuwendung. Den Arbeitslosen unter ihnen suchten sie wenn möglich aus der Klemme zu helfen, doch die meisten hatten keinerlei Verlangen, ihr Bummlerleben und ihre Gönner einer bezahlten Arbeit halber zu verlieren. Mein Vater musste sich von einem seiner groben Kunden, den er vielleicht beim Haareschneiden versehentlich gezwickt hatte, anschnauzen lassen. Da sagte er uns auf dem Heimweg: „Da seht ihr, wie schwierig es ist, sich zum Diener dieser Leute zu machen.“ Auch diese Begebenheit verfolgt mich seither mein ganzes Leben lang.

Es ist klar, dass solche Anekdoten Einfluss hat­ten auf meine Berufung, die ja wesentlich im Dienst an meinen ärmsten Mitmenschen be­stehen sollte. Dann kam die Pubertät, und eine simple Überlegung drängte sich mir auf: „Du engagierst dich für eine bestimmte Zukunft bloß, weil du in einer wohlhabenden katholischen Familie aufgewachsen bist. Wärest du in einer areligiösen oder ungläubigen, in einer islamischen oder jüdischen oder indischen Familie aufgewachsen, würdest du dich eben für ein anderes Leben entscheiden. Solange du also deinen Christenglauben nicht persönlich erforscht hast – was gibt dir denn die Gewiss­heit, dass er der richtige ist?“

Von diesem Augenblick an verschlang ich an Lektüre alles, was mir nur in die Hände kam. Ich suchte nach Wahrheit, debattierte mit dem einen oder anderen, doch ganz diskret, ohne die innere Qual zu zeigen, unter der ich litt. Eine Zeitlang ließ ich mich von den mehr oder weniger zum Pantheismus neigenden deutschen Dichtern und Denkern verführen. Unbeabsichtigt war das der Auslöser für meine persönliche Glaubensüberzeugung. Da las ich zufällig – nicht in der Bibel, sondern sonstwo – die Geschichte von Mose und dem brennenden Dornbusch (Ex 3). Mose, dieser einfache, aus Ägypten geflüchtete Hirte, fragt eine mys­teriöse Stimme: „Und was antworte ich dann, wenn man mich fragt, wer mich denn zum Befreier meines Vol­kes berufen habe?“ Die Stimme sagt – und das war die erste große Erschütterung meines gan­zen Wesens: „Geh und sag ihnen, DER ICH BIN hat mich beauftragt.“
Dieses ICH BIN packte mich in meiner damaligen adoleszenten Verstörung und stand da wie ein Felsblock. Das war ein so einfacher und mächtiger Begriff, dass er mich geradezu blendete. Von jenem Augenblick an überwältigte mich die Vorstellung der Gottheit als etwas Präzises, Reines, alles Begründendes. All meine schwimmenden Gedankenfluten waren mit einem Streich weggewischt. Von da an trug ich in mir die Gewissheit, dass das Leben, in das ich mich geworfen fand, nicht eine ziellose Wegstrecke sein konnte, sondern schließlich zu einer Begegnung führen musste.

Ich forschte indessen weiter nach. Mehrmals hatte ich Perioden von Krankheit zu durchstehen, während derer ich sogar meine Studien unterbrechen musste. Gerade bevor ich die letzte Gymnasialklasse erreichte, wurde ich Opfer der Blutarmut. Sechs Monate am Meer und drei Monate in den Bergen wurden mir als Kur verschrieben. Die Krankheit kostete mich ein volles Studienjahr, doch sie trug sehr stark zu meiner Reifung bei. Fortsetzung folgt

Autor:

Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt

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