Memoiren eines unbeugsamen Christen, Folge 3
Abbé Pierre
Es war nach Kriegsende, als ich Parlamentsabgeordneter war. Eines Morgens ruft mich jemand an: „Drei Kilometer von hier will sich einer das Leben nehmen. Kommen Sie sofort, sonst versucht er es ein zweites Mal!“
Ich fand einen total ruinierten Menschen. Er erzählte mir sein Leben. Es glich tatsächlich einem Roman.
Seine Mutter war eine einfache Hausfrau gewesen. Eines Tages ruft sie ein Notar an und erklärt ihr: „Madame, ein alter Herr, dem Sie den Haushalt machen, hat Sie als Alleinerbin eingesetzt, da er keine eigenen Erben hat. Ein großartiges Vermögen mit Weingärten in der Champagne, Grundstücken etc.“
Kaum war diese mittellose Frau reich geworden, fängt ein skrupelloser Polizist an – einige sind ja tadellos, aber andere sind regelrechte Gauner –, ihr den Hof zu machen. Es kommt zu einer feinen Hochzeit mit diesem Haufen Geld und dann kommt Georges zur Welt, der sich nun das Leben zu nehmen versuchte. Er sollte nie ein Familienleben kennenlernen, weil er ständig in Internaten untergebracht wurde.
Wenn er in den Ferien nach Hause kam, sagte ihm seine von ihrem Gatten völlig verächtlich behandelte Mutter: „Schau dir in seiner Schublade seinen Dienstrevolver an. Eines Tages musst du deine Mutter rächen.“
Mit zwanzig Jahren hat sich Georges verlobt, doch da schickt ihm seine Verlobte plötzlich und ohne ein Wort der Erklärung einen Abschiedsbrief. Bei unserer Begegnung war er 45, und noch immer liebte er seine ehemalige Verlobte so sehr, dass er bitter zu weinen begann, als er von ihr sprach. Tatsache war, dass die Geliebte seines Vaters, des Polizisten, Georges eine ihrer Verwandten anhängen wollte, um auch vom Erbe zu profitieren. Deshalb hatte sie begonnen, der Verlobten anonyme verleumderische Briefe über Georges zu schreiben. Hoffnungslos und von ihr verlassen, heiratete er schließlich die ihm so angehängte Braut und bald kam auch ein Baby.
Doch der Zufall wollte es, dass seine Freunde bei der Nachforschung über die plötzliche und unerklärliche Absage die an die Verlobte adressierten anonymen Briefe entdeckten und sie Georges aushändigten. Der erkannte gleich die Schriftzüge der Geliebten seines Vaters und holte sich dessen Revolver, um die Frau, die ihn von seiner Verlobten getrennt hatte, zu erschießen. Doch da es eine automatische Waffe war, mit der er nicht umgehen konnte, schaffte er es nur, sie zu verletzen. Seinen Vater aber, der gerade hinter ihr stand, traf der tödliche Schuss. Vatermord, schlimmstes aller Verbrechen. Das Gericht verurteilte ihn zu lebenslanger Zwangsarbeit. Er wird nach Cayenne, der Strafkolonie im südamerikanischen Guyana, gebracht, noch bevor sein Kind zur Welt kommt.
Er kannte also seine Tochter nicht. Als diese 15 oder 16 Jahre alt war, begann sie ihrem Vater ins Straflager die zärtlichsten Briefe zu schreiben. Sie hatte sich von ihrem Vater ein so stark idealisiertes Bild gemacht, weil er doch ein Opfer seiner Liebe geworden war.
Da ein plötzlicher theatralischer Donnerschlag: Georges wird begnadigt, da er unter Einsatz seines Lebens bei einer Feuersbrunst einen Menschen gerettet hatte. Unversehens kehrt er nach Frankreich zurück. Wie er heimkommt, um seine Tochter kennenzulernen, entdeckt er, dass seine Frau mit einem Mitsträfling lebt, der einige Monate zuvor entlassen worden war und seiner Familie von Georges’ Schicksal berichtet hatte. Schon war ein Baby unterwegs. Seine Tochter, die ihm so herzliche Briefe geschrieben hatte, war schrecklich von ihrem Sträflingsvater enttäuscht, denn er hatte Tuberkulose (er sollte 15 Jahre später daran sterben) und Malaria und hatte begonnen zu trinken. Als sie das merkte, weigerte sie sich, mit ihm auch nur ein Wort zu wechseln.
Da unternahm er seinen Suizidversuch, und das war der Moment, da ich mit ihm zusammentraf.
Als ich diesen Roman erfahren hatte, sagte ich zu ihm: „Georges, deine Geschichte ist entsetzlich. Doch kann ich dir leider nicht aus der Patsche helfen. Meine Familie ist zwar wohlhabend, doch als ich Mönch wurde, verzichtete ich auf mein Erbteil. Ich habe keinen Sou. Ich bin zwar Abgeordneter und erhalte meinen Monatslohn, doch kommen so viele völlig mittellose Familien und erzählen mir ihre Elendsgeschichten, dass ich mein ganzes Einkommen brauche, um meine Schulden zu begleichen, mit denen ich ihnen eine anständige Unterkunft baue. Da bleibt leider für dich nichts übrig. Und jetzt willst du also sterben. So denk doch an die Mütter, für die ich Wohnungen baue! Willst du mir nicht helfen, bevor du dich tötest, die Häuser ein wenig rascher für diese Familien bezugsbereit zu machen?“
Da hellte sich sein Gesicht auf, und er sagte:„Abgemacht!“ Er kam, war zwar ein körperliches Wrack, doch half er mir beim Transport von Brettern, so oft meine Amtsverpflichtungen mir Zeit ließen, die Bauten weiterzuführen. Diese Arbeit gab seinem Leben neuen Sinn.
Später gestand er mir: „Was immer Sie mir gegeben hätten: Geld, ein Haus, bezahlte Arbeit – ich hätte mir doch wieder mein Leben zu nehmen versucht. Was mir fehlte, war nicht Lebensunterhalt, sondern der Sinn meines Lebens.“
So begann er, den noch Armseligeren, als er selber es war, zu helfen. Der Verzweifelte verwandelte sich in einen Retter und Emmaus war geboren.
Fortsetzung folgt
Autor:Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt |
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