Welttag der Suizidprävention
Trauer ist keine Krankheit, sondern Ausdruck der Liebe

Golli Marboe | Foto: zVg
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Golli Marboe ist das Schlimmste passiert, was einem Vater passieren kann: Sein Sohn Tobias nahm sich im Alter von 29 Jahren das Leben. Zum Welttag der Suizidprävention am 10. September wird Golli Marboe Einblicke in die verletz­liche Welt eines betroffenen Vaters geben. Zugleich möchte er bewusst machen, dass alle in der Gesellschaft eine Rolle und Verantwortung tragen.

Vor ein paar Tagen hat uns meine vierjährige Enkelin Alma in einem entzückenden Video mitgeteilt, dass sie bald eine „große Schwester“ sein wird. Was für eine Freude! Es stehen – so hoffentlich alles gut geht – also bald ein weiterer Geburtstag und ein nächster Namenstag im Familienkalender. Leider findet sich in diesem Kalender aber auch ein Gedenktag, der unser aller Leben auf immer verändert hat: der Todestag meines Sohnes Tobias, der sich mit 29 Jahren das Leben genommen hat.

Es ist wider die Natur, wenn man vom eigenen Kind nicht nur den Geburtstag, sondern auch den Todestag kennt. Nun ist der Tod von Tobias bald vier Jahre her. Je länger diese Katas­trophe zurückliegt und ich aber nach wie vor von unserem Buben berichte, spüre ich förmlich den einen oder die andere zu sich selbst sagen: „Nun ist das aber schon eine Weile her, der Golli könnte langsam aufhören, immer wieder davon zu reden.“

Andenken an Verstorbene für die Lebenden wichtig und relevant

Warum heißt es gemeinhin, dass man Trauer hinter sich lassen könnte oder gar müsste? Denn Trauer ist doch keine Krankheit! Trauer ist Ausdruck der Liebe. Meine persönliche Trauer ist ein konkreter lebendiger Teil meiner Beziehung zum verstorbenen Kind! Manchmal höre ich dann andere Menschen auch noch in Gedanken zu sich selbst sagen: „Der Golli hat doch noch drei andere Kinder, und inzwischen auch Enkel, er sollte sich nicht so viel mit Tobias beschäftigen.“ Warum soll ich mich mit einem verstorbenen Kind denn weniger auseinandersetzen als mit jenen, die leben? Wie könnte man überhaupt ein Kind mehr lieben als ein anderes? Und sollte man ein verstorbenes Kind denn aus der familiären oder öffentlichen Wahrnehmung auf den Friedhof „verbannen“? Eigentlich doch kurios. Ist nicht gerade das Andenken an Verstorbene für die Lebenden besonders wichtig und relevant?

Selbstverständlich werde ich mein Leben lang traurig bleiben, so wie ich mein Leben lang meine Kinder lieben werde. Trauer ist eine Emotion, die den Menschen mit ausmacht! Aber die Erinnerung an Tobias werde ich keinesfalls auf den Tag des Todes oder gar auf die Todesursache reduzieren. Ich werde den Menschen, mit dem ich 29 Jahre gemeinsam auf der Welt sein durfte, in möglichst umfänglicher Erinnerung behalten.

Werk von Tobias Marboe | Foto: zVg

Es ist zum Glück bei Tobias so, dass er zahlreiche Bilder, Lieder, Sketches hinterlassen hat. Vieles, was zum Nachdenken anregt, vieles, was ich wohl erst im Nachhinein einzuordnen vermochte. Hätte ich in seinen Arbeiten schon suizidale Züge erkennen müssen? Damit hadere ich sehr. Dass ich dachte, man könne depressive Menschen alleine mit persönlichen Gesprä­chen, durch die Empfehlung sich auszuschlafen oder durch Ablenkung aus einer Krise holen. Auch ich gehörte zu jenen, die psychische Be­las­tungen kleiner und geringer einschätzen als eine Operation des Blinddarms. Dabei sind gerade die nicht greifbaren Dinge dem Menschen in der Regel wertvoller als das Materielle: Musik, Farben, Emotionen, Gefühle, Glaube … all das bedeutet uns mehr als ein neues Auto. Aber wenn es um unsere Gesundheit geht, da scheinen wir das Körperliche, das Physische besser einordnen zu können als die Gesundheit der Seele, des Herzens und der Psyche.

Im Andenken an Verstorbene sind gerade „Glaube“, „Liebe“ und vor allem die „Hoffnung“ Begleiter, die im Leben danach tatsächlich helfen können. Tobias kreierte ein Piktogramm mit dem Text: „Die Hoffnung stirbt nicht zuletzt, weil die Hoffnung gar nicht sterben kann!“ Ich unterstelle, dass praktisch alle Menschen irgendwo ganz tief im Inneren darauf hoffen, dass man in einer späteren Exis­tenz nach dem Tod all jene wiedersehen könnte, die schon gegangen sind.

Nun ist es doch so, dass man nach einer Katastrophe wie dem Suizid eines Kindes sowieso keine Kraft mehr für irgendetwas besitzt. Warum soll man diese eh nicht vorhandene Kraft dafür verwenden, gegen diese Hoffnung auf ein Wiedersehen anzukämpfen? Ich wüsste nicht, wie ich noch leben könnte, wenn ich diese meine Perspektive sterben lassen würde. Das bedeutet keineswegs, dass ich selbst Todessehnsucht hätte. Nein, diese Hoffnung erlaubt mir, Momente so zu erleben wie andere Eltern – deren Kinder noch leben: Der „erste Schultag“, das „Fahrradfahren ohne Stützräder“, Erlebnisse von gemeinsamen Urlauben. Auch Mütter und Väter, deren Kinder noch leben, können diese so prägenden und besonderen Ereignisse nicht noch einmal wiederholen. Sie freuen sich trotzdem über derartige unwiederholbare Momente. Warum sollte ich also das gemeinsame Leben mit Tobias nicht auch in so positiver und schöner Erinnerung bewahren?

Was sollte auch von uns in Erinnerung bleiben?

Aber wie berichtet man nun meiner Enkelin – die eben bald große Schwester sein wird – von diesem Onkel, der nur mehr am Friedhof zu besuchen ist? Wie erzählt man von Tobias, wenn man damit auch die Traurigkeit der hinterbliebenen Schwestern, der Mutter, des Bruders mit auslöst? Warum ist es überhaupt kein Problem, über verstorbene Großeltern zu erzählen? Warum entwickeln sich schon die Essen nach einem Begräbnis oft als sehr fröhliche Ereignisse, bei denen gar nicht so selten irgendwelche amüsanten Familiengeheimnisse zu Tage treten? Aber über das „zu jung“ gestorbene Kind kann man nicht sprechen.

Buchcover: Notizen an Tobias, von Golli Marboe

Was heißt denn schon Alter? Was beschreibt ein erfülltes Leben? Wieso hat man in der „richtigen“ Reihenfolge zu gehen? Es ist belas­tend und schwierig, meiner Enkelin von Tobias zu erzählen. Dabei wollen wir doch, dass er nicht nur bei uns präsent ist, sondern auch bei seiner Nichte, die er selbst noch so liebevoll im Arm gehalten hat. Noch schwieriger wird es mit dem Kind, das da nun auf die Welt kommen wird. Da gibt es keine gemeinsamen Fotos mehr, nun kommt erstmals ein Mensch in unsere Runde, den Tobias nicht mehr persönlich kannte. Geht damit etwas zu Ende? Was wissen wir von unseren Urgroßeltern? Was sollte auch von uns bei Enkeln, Urenkeln und nächsten Generationen in Erinnerung bleiben? Warum möchte der Mensch überhaupt in Erinnerung bleiben? Was ist daran wichtig? Mein Vater ist inzwischen zehn Jahre tot. Meine Großmütter um die zwanzig Jahre … Was ist ein angemessener Zeitraum, im Gedächtnis behalten zu werden? Am Meidlinger Friedhof, wo Tobias nun „wohnt“, da gibt es immer mehr Grabsteine, die brüchig werden. Gräber, die niemand mehr bezahlen möchte. „Das Leben geht weiter“, heißt es. Aber hat es dadurch schon einen Wert oder einen Sinn? Wohl kaum. Wenn nun der Sinn in einem Leben nach dem Tod liegt?

Unsere Welt – ein Teil der Ewigkeit?

Die Schilderungen vom Paradies, vom Nirvana, oder andere Beschreibungen der Ewigkeit, diese formulieren keinen Zustand, in dem die Zeit, wie wir sie kennen, einfach ohne Ende weiter geht. In einer Existenz nach dem Tod sind wir dann einfach, wer wir sind. Eine solche Idee der Gleichzeitigkeit würde im Umkehrschluss bedeuten, dass ja diese Welt, in der wir gerade stecken, auch schon ein Teil dieser Ewigkeit wäre. Nur können wir das noch nicht erkennen. Allerdings wären all die Verstorbenen schon Teil einer solchen Ewigkeit und könnten uns bei dem, was wir in unseren Leben auf Erden tun, in irgendeiner Weise über die Schultern schauen. Ich persönlich habe mit Esoterik und Geisterwelten gar nichts gemein. Aber die theologisch philosophische Annäherung an dieses Bild vom Paradies, das tröstet mich. Denn wenn das so wäre, dann hätte uns auch Tobias jetzt im Blick – nur ich kann das noch nicht erkennen.

Wir sollten nicht nur die Sieger feiern

Wir haben viel zu tun, damit bei der persönlichen Sinnsuche kein Mensch mehr so traurig und einsam wird, wie das Tobias wurde. Dazu sollten wir psychische und physische Gesundheit gleich wichtig nehmen; sollten in den Schulen die Talente der Kinder stärken, damit sie sich entfalten können, und eben nicht deren Schwächen über Jahre zum Thema machen; sollten für mehr Verteilungsgerechtigkeit sorgen, damit niemand in unserem Land darunter zu leiden hat, nicht zu wissen, ob die nächste Miete bezahlt werden kann; sollten wir in den sozialen Medien ganz anders miteinander umgehen; sollten wir im Sport nicht nur die Sieger feiern; sollten wir uns verabschieden von tradierten Lebenszielen, die uns vorgaukeln, das Ziel im Leben über die eigene Schönheit, ewige Jugend und Reichtum zu formulieren.

Die Ursachen psychischer Krisen sind vielfältig und bei jedem Menschen anders. Wir können der Einsamkeit seelisch belasteter Menschen durch Enttabuisierung des Themas und durch Entstigmatisierung der Betroffenen vehement entgegen treten. Die Wertschätzung eines Menschen darf nicht davon abhängen, ob uns dieser möglichst wenig „belastet“. Die Suche nach dem Sinn des Lebens ist keine Belas­tung. Eine psychische Krise formuliert aber in den meisten Fällen genau diese Suche nach einer noch nicht gefundenen Orientierung. Ob unser aller Existenz tatsächlich besonders ist; ob wir dann dort, wo immer das sein wird, tatsächlich die geliebten Menschen, die schon gestorben sind, wieder sehen; ob wir eine Seele haben; ob es etwas Göttliches gibt – darauf werden wir im Leben keine Antworten erhalten, diese bekommen wir dann frühestens erst nach dem Tod. Mit meinem 80-jährigen Onkel Peter sprach ich letztens darüber, was er sich für sein Sterben vorgenommen hat – er möchte es dementsprechend „neugierig“ angehen!

Diesen Text hat Golli Marboe verfasst. Er initiierte mit seinem Verein zur Förderung eines selbstbestimmten Umgangs mit Medien die „Tage der psychischen Gesundheit“, die ab Herbst 2022 an Schulen Österreichs über mentale Gesundheit informieren sollen. Das Angebot ist für die Schulen kostenlos und wird durch Spenden und öffentliche Förderungen finanziert. Infos unter: mentalhealthdays.eu

Gedenkfeiern

Rund um den Welttag den Suizidprävention am 10. September lädt die „Kompetenzstelle Trauer“ zur Gedenkfeier für Menschen, die durch Suizid verstorben sind.
Fr., 9. September, ab 15 Uhr im Bildungshaus St. Hippolyt in St. Pölten.
Sa., 10. September, ab 15 Uhr im BildungsZent­rum St. Benedikt in Seitenstetten.

Programm:

15 bis 16.30 Uhr: Impulsreferat von Golli Marboe. Mit seinem Buch „Notizen an Tobias“ gibt er Einblick in die verletzliche Gedankenwelt eines Vaters. Er möchte zugleich bewusst machen, dass alle in der Gesellschaft hier eine Rolle und Verantwortung haben.

16.30 bis 18 Uhr: Gesprächsinseln mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vom AKUT-Team NÖ, der Telefonseelsorge, dem Mobilen Hospizteam, dem Psychosozialen Dienst und der Kompetenzstelle Trauer.
19 Uhr: Gedenkfeier für Menschen, die durch Suizid gestorben sind. Anschließend Agape und Möglichkeit zum Gespräch.

Anmeldung: 9. September, St. Pölten:
hiphaus@kirche.at; Tel. 02742/352 104.
10. September, Seitenstetten:
bildungszentrum@st-benedikt.at.

Informationen:
Gerti Ziselsberger, Tel. 0676/83 844 7373;
gertrude.ziselsberger@caritas-stpoelten.at

Autor:

Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt

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