Perlen gläubiger Lebenskunst
Übergangs-Riten zu den Brüdern Schlaf und Tod
In Mönchhof, wo ich aufgewachsen bin, kam ich mit den Leuten manchesmal zur Totenwache zusammen. Um den in der „Leichenhalle“ aufgebahrten Körper sitzen, stehen die engsten und entfernteren Verwandten und alle, die dem Verstorbenen einen letzten Besuch abstatten wollen und den Hinterbliebenen ein Zeichen der Nähe geben. Herzstück dieser Liturgie ist das Beten des Rosenkranzes. Und kaum eine andere katholische Versammlung zum Gottesdienst verdient die Bezeichnung „Liturgie“ so sehr wie dieses Begehen der Totenwache, denn das aus dem Griechischen kommende Wort „Liturgie“ bedeutet ein „Werk des Volkes“; „Laós“ steckt da drin, das ist das Volk. Volk meint hier durchaus eine allgemeine Menge, von der die Geistlichen abgehoben sind; und tatsächlich fand in meiner Heimatgemeinde die Totenwache ohne den Pfarrer statt, den „liturgischen Vorsitz“ führte eine Frau, die „Vorbeterin“. Vorläufer dieser „Vigilfeiern“ in den meist kommunalen Aufbahrungshallen war die abendliche Gebetsversammlung um den in der Guten Stube des Wohnhauses offen aufgebahrten Leichnam. Vor – und im gläubigen Sinn mit dem Verstorbenen wurde da der Rosenkranz gebetet; und auf dieses Stück Hauskirche folgte – ziemlich modern – eine Agape mit Brot, Speck und Schnaps.
Der Rosenkranz, ein Gebet des (katholischen) Volkes? Ein „Brevier“ der Laien? Ja und nein. Sein Satzgeflecht, zum größten Teil aus den Wiederholungen von Vaterunser und Ave Maria aufgebaut, soll jedem „einfachen“ Katholiken geläufig sein. Und darf trotzdem zur täglichen Praxis von Ordensleuten, Priestern und Bischöfen gerechnet werden. Auf Autofahrten habe ich den Rosenkranz oft mit Nonnen gebetet, und in den stilleren Zeiten im Bus oder Flugzeug konnte ich die Perlenschnur immer wieder durch die Hände von Bischöfen gleiten sehen.
MITGERISSEN IM GEBET
Es gibt einen unvergesslichen Augenblick, der dem Rosenkranz einen besonderen Platz in meinem Leben zugewiesen hat: Um den Sarg meines Großvaters versammelt haben wir ihn gebetet, und während das „Rezitativ“ der wieder und wieder gesprochenen Worte uns umwogte, wie ein Schwall umbrauste, geriet ich für einige Momente in eine Art von Trance, einen schwer zu beschreibenden Zustand eines Mitgerissen-Werdens, der das Bewusstsein zu einem ungekannten Gemeinschaftsgefühl führte.
Jahre danach, auf einem Spaziergang durch die abenddämmrige Stadt Wien, erblickte ich durch das Schaufenster einer Seitengasse der langen Fußgängerzone von Favoriten, dem Zehnten Gemeindebezirk, eine Gruppe, die artig sitzend wohl im Meditieren begriffen war. Minuten darauf betrat ich die Kirche am Keplerplatz; dort, vor der Messe, rezitierte ein Grüppchen den Rosenkranz, und spontan kam mir der Gedanke: „Hier hätte die Gruppe von vorhin die Übung der Versenkung gratis bekommen.“
Als vor einigen Jahren der Rosenkranz als Halsschmuck zu einem Teil der Jugendkultur wurde, schien dies manchen anstößig. Doch die Kultur vergangener Jahrhunderte kannte das schon. Und auch andere Kulturen kennen die Perlenschnur. Man sieht auch bei uns – besonders am Freitag – muslimische Männer mit ihrer Gebetskette, deren Manipulation begleitet die Lobpreisung Allahs oder sie dient einfach zur spielerischen Fingerübung. Die Mönche vom Berg Athos (und mit ihnen unzählige Ostchristen) gebrauchen Gebetsschnüre zur Wiederholung des Herzensgebets. Die oft vereinfachte Form dieser Bänder wird als Schmuck am Handgelenk zur Herrenausstattung etwa in Griechenland gezählt.
Gottseidank selten genug hindern mich die aufgewühlten Gedanken nächtens am Einschlafen. Dann ist mir der Rosenkranz eine Refokussierung auf das „Nichts“ der Ruhe. Im Mantra der Wortwiederholung zerfließen die Bewegungen der Sorgen und Beklemmungen der Geschäfte. Der Faden des Alltags reißt ab und die Beschwerung weicht. Mit sanftem Sog öffnet sich die Flügeltür zu den Nebeln, in deren Dunkelheit das Wogen der Seele ausklingt.
FRANZ JOSEF RUPPRECHT
Chefredakteur
Autor:martinus Redaktion aus Burgenland | martinus |
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