Ganz bewusst auf das Schöne schauen: Mikrobiologin Sigrid Neuhauser lädt auf Twitter täglich dazu ein.
Ein bisschen wie Seelsorge

Mikrobiologin Sigrid Neuhauser hat mit ihrem Aufruf auf Twitter eine Dankbarkeits-Lawine losgetreten | Foto: pixabay
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  • Mikrobiologin Sigrid Neuhauser hat mit ihrem Aufruf auf Twitter eine Dankbarkeits-Lawine losgetreten
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Sigrid Neuhauser ist Professorin für Mikrobiologie an der Universität Innsbruck. Seit Monaten lädt sie täglich auf Twitter dazu ein, schöne Momente miteinander zu teilen. Im Tiroler Sonntag-Interview erzählt sie vom heilsamen Blick auf das Gute, von der Last des Wissens und der Kraft der Dankbarkeit.

Eher exotische Fächer wie Immunologie, Virologie oder Mikrobiologie sind seit der Pandemie mit einem Mal in aller Munde. Wie hat sich Ihr Berufsalltag verändert?
Sigrid Neuhauser:
Wie für fast alle hat sich mein Arbeitsalltag verändert, meine Forschung an sich beeinflusst die Pandemie jedoch nicht. Aber ich bekomme viele Anfragen aus dem Bekanntenkreis und kann einiges erklären. Viele verstehen ganz Grundsätzliches nicht und bekommen Panik vor Dingen, die gar nicht so zum Fürchten sind.


Wie geht es Ihnen als Fachfrau privat in der Pandemie? Finden Sie ihr Wissen hilfreich oder würden Sie manchmal lieber weniger wissen?
Neuhauser:
Das ist sehr zweischneidig. Einerseits erlebe ich in zufälligen Begegnungen, was den Leuten Angst macht. Ich verstehe diese Sorgen. Was wir im Labor machen, das passiert live in der ZIB2 und in den Zeitungen – und das seit über einem Jahr. Nicht jedes hochgespielte Ereignis ist relevant. Hier ist es sicher ein Vorteil, wissenschaftlich recherchieren zu können, z.B. zur Wirksamkeit der Impfstoffe. Ich kann für mich aus den Zahlen das „Kleingedruckte“ herauslesen und daraus Hoffnung schöpfen. Aber wenn ich sehe, wie Manches ignoriert wird, dann würde ich gern weniger wissen – mein Blutdruck wäre sicher niedriger.

Viele sind erschöpft von den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, kurz vor der Resignation. Warum sollten wir weiter durchhalten?
Neuhauser:
Die Pandemie-Müdigkeit trifft uns alle. Das einzige, was wirklich dagegen hilft, ist: versuchen, sich zu motivieren. Ich will mich nicht anstecken, ich will nicht, dass sich jemand aus der Familie ansteckt, will das Virus auch nicht weitergeben. Wir sind jetzt so weit gekommen, die Impfungen laufen – die paar Monate halten wir auch noch durch. Wir haben den Marathon fast geschafft. Es wird vorbeigehen, Normalität wird einkehren.

Was kann man in der momentanen Situation für das „Immunsystem der Psyche“ tun?
Neuhauser:
Ich persönlich schreibe mir jeden Abend ein oder zwei Dinge auf, die schön waren und für die ich dankbar bin. Das können ganz kleine Begebenheiten sein. Die freundliche Kassiererin, das Wolkenspiel am Himmel, ein neues Spiel mit dem Kind. Ich schaue ganz bewusst auf das Gute, und sei es noch so klein. Denn wenn es der Psyche gut geht, geht’s auch dem Immunsystem gut. So würde ich jedem raten, etwas zu suchen, das Freude macht und dies bewusst in den Tagesablauf einzubauen.

Auf Twitter rufen Sie seit einigen Monaten täglich dazu auf, schöne und hoffnungsspendende Momente zu teilen. Warum machen Sie das?
Neuhauser:
Ich habe ganz spontan in den Weihnachtsferien damit gestartet. Es war ein Tag nur mit schlechten Nachrichten, privat und in den Medien. Eine Freundin erinnerte mich an das Dankbarkeitstagebuch, das ich vor Jahren schon mal geführt hatte. Ich beschloss, mich zunächst dazu zu „zwingen“, jeden Tag etwas Schönes aufzuschreiben und auf Twitter auch dazu einzuladen. Ich war massiv überrascht, wie viele Leute das geliked und kommentiert haben und sich bis heute regelmäßig beteiligen. Manche warten auf meinen Post, haben es in ihren Tagesablauf eingebaut – ich schaue abends alle Antworten durch und freue mich darüber. Es ist spannend, worüber sich die Leute freuen, auch Trauriges ist dabei. Langsam kommt es mir ein bisschen wie Seelsorge vor ... (lacht)

Was gibt Ihnen Hoffnung und Kraft zum Leben?
Neuhauser:
Neben dem Rückhalt in der Familie ist es die neu bestärkte Überzeugung, dass man viel mehr schafft, als man sich selbst zutraut. Und dass die schlimmen Zeiten irgendwann vorbeigehen. Wenn ich in einem Loch bin, weil alles katastrophal scheint, gehe ich ganz allein eine Runde in den Wald, suche mir einen ruhigen Platz, wo kein Mensch ist und lasse den Kopf frei werden. Das gibt mir viel Kraft. Dann geht’s meistens eh wieder. 

Zur Person: Univ.-Prof. Dr. Sigrid Neuhauser (40) ist stellvertrendende Institutsleiterin für Mikrobiologie an der Universität Innsbruck. Sie forscht vor allem zu Parasiten an Pflanzen und Algen, Pilzen und deren Interaktionen mit ihren Wirten und der Umwelt. Sie lebt mit ihrer Familie in Münster im Unterinntal.

Mikrobiologin Sigrid Neuhauser hat mit ihrem Aufruf auf Twitter eine Dankbarkeits-Lawine losgetreten | Foto: pixabay
Univ.-Prof. Dr. Sigrid Neuhauser (40) ist stellvertrendende 
Institutsleiterin für Mikrobiologie an der Universität Innsbruck. Sie forscht vor allem zu Parasiten an Pflanzen und Algen, 
Pilzen und deren Interaktionen mit ihren Wirten und der Umwelt. Sie lebt mit ihrer Familie in Münster im Unterinntal.  | Foto: Archiv
Autor:

Lydia Kaltenhauser aus Tirol | TIROLER Sonntag

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