14. Sonntag im Jahreskreis | 05.07.2020
Meditation
Die Leiter des Schweigens
„Die erste Sprosse auf der mystischen Leiter des Schweigens besteht darin, dass man sich nicht gerne reden hört. Die vorletzte Sprosse derselben Leiter ist das Zuhörenkönnen.“
Eine wichtige Art und Weise des Schweigens ist das Zuhören. Ich höre auf den anderen, ohne gleich zu überlegen, was ich ihm erwidern könnte. Ich höre einfach zu und gehöre in diesem Zuhören dem andern. Ich fühle mich ihm zugehörig. Ich versuche, ihn zu verstehen, ohne ihn zu bewerten oder zu beurteilen.
Es ist eine Kunst, dem andern zuzuhören. Denn oft genug sind wir beim Zuhören immer schon mit unseren eigenen Gedanken beschäftigt, die uns viel klüger vorkommen als die Worte, die der andere spricht.
Michael Ende erzählt in seinem Roman „Momo“ von einem kleinen Mädchen, das eine Meisterin im Zuhören ist. Nur durch ihr Zuhören fassen die Menschen neuen Mut, fühlen sich verstanden und können auf einmal zu sich selber stehen.
Beim Zuhören soll nicht nur unser Mund schweigen, sondern auch unsere Gedanken. Denn oft genug bewerten wir das, was der andere uns erzählt. Aber nur der hört gut zu, der frei ist von allem Bewerten und Beurteilen.
„Der Anruf Gottes bricht das Schweigen nicht; deshalb können ihm das Telefon, die Türglocke, der brüderliche Umgang nicht schaden.“
Offensichtlich hat der „kleine Mönch“ (eine Figur, mit der die französische Mystikerin und Sozialarbeiterin Madeleine Delbrêl geistliche Erfahrungen weitergibt) diesen Satz häufig mit sich getragen und sich immer wieder an ihn erinnert. Denn in seiner Suche nach der Stille, in der er Gott hören möchte, wurde er immer wieder gestört durch Telefonanrufe oder die Türglocke, wenn jemand seine Hilfe brauchte. Er musste sich dann immer wieder sagen: Weder das Telefon noch die Türglocke noch der Umgang mit den Brüdern und Schwestern bricht das Schweigen. Ganz im Gegenteil: In all dem sollten wir den Anruf Gottes vernehmen.
Madeleine Delbrêl sagt: „Schweigen heißt nicht, nichts zu sagen, sondern mit all unseren Kräften zu hören.“ Oft verkriechen wir uns lieber in ein schönes Schweigen und merken gar nicht, dass wir darin narzisstisch um uns kreisen, dass es uns mehr um unser Wohlgefühl geht als um den Anruf Gottes. Gott möchte uns gerade im lästigen Telefonanrufer oder in dem ungelegenen Besucher ansprechen.
aus: der kleine mönch im alltag, für uns
neu entdeckt von anselm grün, herder
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.