7. Sonntag der Osterzeit | 12. Mai 2024
Meditation
Kontemplation
Qing schnitzte im Auftrag des Fürsten von Lu einen Glockenständer aus kostbarem Holz. Er arbeitete langsam und besonnen. Der Ständer wurde ein richtiges Kunstwerk. Er war so außergewöhnlich schön, dass die Leute den Verdacht hegten, hier könnten Geister im Spiel gewesen sein.
Qing lachte: „Nachdem ich den Auftrag erhalten hatte, habe ich zuerst einmal nichts getan. Ich habe mich zurückgezogen und gefastet, um zur Ruhe zu kommen. Nach drei Tagen Einsamkeit und Fasten hatte ich Gewinn und Erfolg vergessen“, berichtete Qing. Und weiter: „Nach fünf Tagen hatte ich Lob und Tadel vergessen. Nach sieben Tagen war jeder Gedanke an meinen Auftraggeber verflogen. Alles, was mich von der Arbeit ablenken konnte, hatte sich aufgelöst. Ich hatte nur noch einen einzigen Gedanken: den Glockenständer.“
Wenn ich mich bei der Arbeit beobachte, stelle ich fest, dass unzählige Gedanken um das Werk meiner Hände oder meines Geistes herumtanzen. Gelingt es? Und wenn es nicht gelingt? Was wird es mir bringen? Was werden die andern dazu sagen? Bin ich überhaupt geeignet für diese Arbeit? Oder werde ich als Versager dastehen?
Qing ging in den Wald, um das geeignete Holz zu suchen. Auch dafür ließ er sich Zeit. Er betrachtete verschiedene Bäume, bis er den Baum sah, der für diese Arbeit geeignet war. Den einen Baum. Qing wusste: Dieser ist es und kein anderer. Der Rest ergab sich wie von allein. Der Glockenständer war gewissermaßen bereits im Baum enthalten. Qing musste ihn nur noch hervorholen. Er ließ sich vom Baum führen. Die Arbeit ging wie von selber.
So ruhig wie dieser Holzschnitzer im alten China kann heute kaum mehr jemand arbeiten. Aber es gibt Träume, die gegen die Macht des Faktischen verteidigt werden müssen. Langfristig zahlt sich die ruhigere Gangart auch aus, wie weitsichtige Betriebswirtschafter wissen. Wer hektisch arbeitet, verbraucht unnötig viel Energie, macht Fehler und produziert gelegentlich auch Leerlauf. Eine Spur von Qings Beschaulichkeit kann den Menschen und ihrer Arbeit nur guttun.
Aus: Lorenz Marti, Wer hat dir den Weg gezeigt, Verlag Herder
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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