23. Sonntag im Jahreskreis | 10. September 2023

Meditation

Zeitgenossen

Es ist ein Gedanke, der mir immer wieder in den Sinn kommt: All die Menschen um mich herum, all die Menschen, denen ich begegne, sind Zeitgenossen, meine Zeitgenossen.
Sie alle leben – zufällig oder auch nicht – zur gleichen Zeit wie ich auf diesem schönen blauen Planeten: der ältere Herr aus der Nachbarschaft, der immer so viel spazieren geht, der Zimmermann, mit dem ich beinahe Streit hatte, die Frau in der U-Bahn mit den traurigen Augen und das verträumte Kind auf seinem Weg in die Schule. Sie alle haben ihre ganz begrenzte Zeit – im besten Fall ihre 70, 80 Jahre, wie ich.
Es ist eine kostbare Zeit, aus der es das Beste zu machen gilt, aus der eine möglichst gute und schöne Lebenszeit werden soll.

Ich weiß, der Gedanke ist so schön wie auch naiv, denn es gibt noch ganz andere Zeitgenossen, die unsere und ihre Lebenszeit stören und bedrohen, die im schlimmsten Fall unser Leben zerstören.
Aber der Gedanke lässt mich trotzdem nicht los: Wir leben gemeinsam in einer einmaligen und klar begrenzten Zeit. Mit Bedürfnissen, Wünschen und Sehnsüchten, die so unterschiedlich nicht sind: die Bedürfnisse, etwas zum Essen und Trinken zu haben, ein Dach über dem Kopf, eine sinnvolle Beschäftigung und ein wenig Anerkennung. Der Wunsch, gesund zu bleiben und zu werden, glücklich oder wenigstens zufrieden zu sein. Die Sehnsucht nach Heimat und Liebe.
Könnten diese Gemeinsamkeiten in dieser eigentlich so kurzen Zeit auf unserem Planeten die Menschen nicht näher zusammenbringen, um diese Zeit gut miteinander zu gestalten?
Dieser Wunsch mag vielleicht naiv sein, aber das Wissen um diese geteilte, begrenzte Zeit könnte wenigstens die stark machen, die auch erkannt haben, dass wir Zeitgenossen sind.
Gemeinsam könnten wir mit sanfter Kraft und großer Geduld auf die einwirken, die noch nicht anders leben wollen oder können.

Peter Kottlorz, Mehr als Alltag. Anstöße zum Leben, Topos Taschenbücher