26. Sonntag im Jahreskreis | 25. September 2022
Meditation

Vater unser im Himmel

Vater? „Ich soll dich Vater nennen? Das hieße tausendmal mich von dir trennen“, so sagt schon Rilke im „Buch von der Pilgerschaft“, und auch heute empfinden viele die Vaterbeziehung als etwas Belastendes, das sie von Gott trennt. Aber Jesus Christus hat dich als liebevolle Gegenwart erkannt, du Großes Geheimnis, und dich „Abba, lieber Vater“ genannt, wo ich dich lieber „Mutter“ nennen würde.

Unzählige haben dich seither als Vater angerufen. Ihrer unüberschaubaren Schar darf ich mich ehrfürchtig einreihen. In ihre ehrwürdige Gemeinschaft trete ich ein, wenn auch ich es wage, dieses Gebet zu meinem zu machen. Lass mich an keinem deiner zahllosen Namen hängenbleiben, wenn ich betend in deiner Gegenwart stehe. Denn du bist und bleibst ja das namenlose Geheimnis. Amen.

Vater, oft fällt es mir leichter, dich als Mutter anzurufen. Dann hilft mir das Gleichnis vom barmherzigen Vater, diesen Anruf und diese Beziehung besser zu verstehen. Denn der Vater im Gleichnis kommt ja unserem Mutterbild weit näher als dem traditionellen Vaterbild. Ähnlich einer Mutter, die am Fenster steht, sieht er den Sohn schon von weitem kommen. Wann schon hätte ein Vater Zeit für solches Ausschauhalten?

Im Gleichnis sagt der Vater ziemlich genau das, was mir noch von meiner Mutter in den Ohren klingt: „Du brauchst ein sauberes Hemd!“ – Und sogleich lässt er ein Festgewand bringen. „Und ganz verhungert schaust du aus!“ Schon wird ein Festmahl aufgetischt. Als Erstes aber umarmt er den Heimkehrer. Ja, diese liebevolle Umarmung ist das Allererste – und sie ist zutiefst mütterlich. An sie will ich mich halten, auf sie mich verlassen. Amen.

Vater oder Mutter, beide Anrufungen sind gewagt. Welche auch immer ich wähle, ich sage damit nicht so sehr über dich etwas aus, sondern über mich selber. Ich wage es, mich dein Kind zu nennen. Ja, ich weiß, dass du mir innerlich näher bist als ich mir selber, aber das Vater- oder Mutterbild drückt doch erschütternd deutlich aus, „dass ich dir sehr verwandt bin – tausendfach“.

Erschreckt mich das so, weil es so viel von mir fordert? Bin ich vielleicht wie der junge Adler, der sein Adler-Sein vergessen hat, weil er von einer Henne ausgebrütet wurde, und nun als Huhn im Hof scharrt? Mach du mir die Kraft meiner Schwingen bewusst. Und lass mich alle meine Schwestern und Brüder in ihrer ungeheuren Würde als deine Kinder erkennen und ehren. Amen.

Aus: David Steindl-Rast, Das Vaterunser, Tyrolia

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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