Dreifaltigkeitssonntag | 12. Juni 2022
Meditation

Foto: Neuhold

Vom Gehen

Zu den alltäglichsten Dingen unseres alltäglichen Alltags gehört das Gehen. Man denkt nur daran, wenn man nicht mehr gehen kann, sondern eingesperrt oder gelähmt ist. Dann empfindet man das Gehenkönnen plötzlich als Gnade und als Wunder. Wir sind nicht Pflanzen, die an eine ganz bestimmte vorgegebene Umwelt gebunden sind, wir suchen selbst unsere Umwelt auf, wir verändern sie, wir wählen und – gehen. Wir erleben uns im Wandeln als die sich selbst Wandelnden, als die Suchenden, die erst noch ankommen müssen. Wir erfahren, dass wir die Wanderer zu einem Ziel, aber nicht die ins bloß Leere Schweifenden sein wollen.

Wir sprechen von einem Lebenswandel, und die erste Bezeichnung der Christen war die der „Leute vom Wege“ (Apg 9,2). Wenn gesagt werden soll, dass wir nicht nur Hörer, sondern auch Vollbringer des Wortes sein sollen, dann sagt uns die Schrift, dass wir nicht nur im Geiste leben, sondern auch in ihm wandeln sollen. Wir reden vom Gang der Ereignisse, vom guten Ausgang eines Unternehmens, vom Zugang zum Verständnis, von verlogenem Hintergehen eines Menschen, vom Geschehen als einem Vorgang, vom Wechsel als einem Übergang, vom Ende als dem Untergang, wir sehen das Werden als einen Aufstieg, unser Leben als eine Pilgerschaft, die Geschichte als einen Fortschritt; wir halten etwas Verständliches für „eingängig“, einen Entschluss für einen „Schritt“. Zu den Weisen der großen Feier gehört die Prozession und der Umzug im religiösen und profanen Leben.

Schon diese ganz kleinen und wenigen Hinweise zeigen, wie sehr wir unser ganzes Leben immer wieder interpretieren am Leitfaden der ganz ursprünglichen, urtümlichen Erfahrung unseres alltäglichen Gehens. Wir gehen, und wir sagen durch dieses ganz physiologische Gehen allein schon, dass wir hier keine bleibende Stätte haben, dass wir auf dem Weg sind, dass wir erst noch wirklich ankommen müssen, noch das Ziel suchen und wirklich Pilger sind, Wanderer zwischen zwei Welten, Menschen im Übergang.
Wir gehen, wir müssen suchen. Aber das Letzte und Eigentliche kommt uns entgegen, sucht uns, freilich nur, wenn wir gehen, wenn wir entgegengehen. Und wenn wir gefunden haben, weil wir gefunden wurden, werden wir erfahren, dass unser Entgegengehen selbst schon getragen war (Gnade nennt man dieses Getragensein) von der Kraft der Bewegung, die auf uns zukommt, von der Bewegung Gottes zu uns.

Karl Rahner
aus: R. Bischof, K. Gasperi, Den Himmel
mit den Händen Fassen, Tyrolia Verlag.

Wenn Du schnell gehen willst, dann gehe alleine. Wenn Du weit gehen willst, dann musst Du mit anderen zusammen gehen.

Afrikanische Weisheit

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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