2. Adventsonntag | 5. Dezember 2021
Meditation
Ein Brief an Amazonien
Amazonien. Ich kenne dich nicht. Dein Name klingt fremd, und zugleich ist er gerade in aller Munde. Das Klima hängt am seidenen Faden. Du bist die grüne Lunge der Welt. Deine Urwälder sollten uns kostbarer sein als Gold und Edelsteine. Als Erdöl sowieso. Aber du bist so weit weg. Aus den Augen, aus dem Sinn. Deine Bäume fallen weiter und brennen. Alles, was dich bewohnt, muss auf der Hut sein. Fluchtbereit. Du bist gefährdet.
Amazonien. Dein Name weckt Fernweh. Ich wünschte, du wärst näher, und ich müsste nicht in ein Flugzeug steigen, um dich zu erleben. Deine gigantischen Wasserfälle, die Buntheit der Tierwelt, Vögel in kreischenden Farben, als wären sie einer hippen Modekollektion entsprungen. Ich will im Einbaum-Kanu die Arme des Amazonas befahren. Den Sonnenuntergang an den Ufern dieses Flussriesen erleben.
Amazonien. Du bist ganz anders. Birgst Gefahren. Wilde Tiere, Insekten, gefährliche Krankheiten, Keime und Bakterien, die mein westlicher Magen nicht aushalten würde. Die Naturgewalt deiner Wasser, in Regenzeiten unaufhaltsam, wie eine breite braune Walze, ein Flussmonster lebt in dir.
Amazonien. Du bist Heimat. Für Menschen, die schon seit Urzeiten in, mit und aus deiner Landschaft leben. Du bist ein eigenes
Ökosystem. Eine Welt in unserer Welt. Grün, feucht, wild und ungezähmt, einzigartig. Du hältst dich nicht an Grenzen oder Gesetze, sprengst mit deinen Farben, deinem Artenreichtum, deiner Pracht alle Vorstellungen.
Amazonien. Wir lassen zu, dass du zerstört wirst. Weil Menschen dem Geld nachlaufen und Gesetze brechen. Heimlich unheimlich in weiter Ferne. Aus den Augen, aus dem Sinn. Weil wir unseren Lebensstil nicht aufgeben wollen. Mein geliebter Frühstücks-Aufstrich führt Krieg mit deinem Ökosystem. Weil ich zu bequem war, mir zu überlegen, woher meine Nahrung kommt, sind deine Bäume gefallen, deine Weiten verbrannt. Weil sich so gut Geld machen lässt mit deinem Holz, deinem fruchtbaren Boden. Unser Konsum bezahlt deinen Ruin.
Amazonien. Wer beschützt dich vor gierigen Händen? Wer stellt sich vor dich, wenn zerstörerische Kräfte dich überwältigen? Wenn die Bagger anrollen? Kann ich dir helfen? Dich retten? Mich retten? Die Welt retten?
Katharina Grager
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.