32. Sonntag im Jahreskreis | 7. November 2021
Meditation
Wenn die Blätter fallen
Rund um Allerheiligen ist es soweit: Der große Nussbaum lässt seine Blätter fallen. Unser Nussbaum ist ein Italiener. Und deshalb lässt er sich viel mehr Zeit im Herbst als der alte einheimische Baum in der Nachbarschaft: Der ist schon Mitte Oktober kahl. Er kennt sich eben besser aus mit dem Tiroler Herbst und weiß um die Tücken früher Schneefälle im Oktober.
Dann zittere ich, ob es die dicht belaubten Äste aushalten. Bisher ist es immer gut gegangen. Sie haben sich unter der Last des Schnees tief gebeugt, sind aber nicht gebrochen. Wenn dann die ersten frostigen Nächte kommen, rieseln die gelbbraunen Blätter herab. Der Nussbaum befreit sich von der Last seiner Blätter. Innerhalb weniger Tage hat er alle losgelassen. Jetzt ist es Zeit für meine liebste Beschäftigung im herbstlichen Garten: Laub rechen. Es ist eine sehr meditative Tätigkeit. Zug um Zug befreie ich das Gras von den Blättern. Darunter kommt noch die eine oder andere Walnuss zum Vorschein. Es ist leicht, ganz bei der Sache zu sein. Ganz da, ganz präsent, ganz im Hier und Jetzt.
Außer es ist Föhn: Dann funktioniert es nicht. Der stürmische Wind bläst die Blätter schneller durch den ganzen Garten, als ich sie einfangen kann. Also nichts mit Laub-Meditation, eher Sisyphos-Arbeit!
Aber sonst lässt es sich wunderbar nachdenken: Was will ich loslassen? Von welcher Last möchte ich mich befreien? Wovon muss ich mich verabschieden?
Die Blätter, die vor wenigen Wochen noch so saftig grün geglänzt haben, sind jetzt braun und trocken. Einige zerbröseln schon, wenn ich sie unter die Buchenhecke lege, damit der Igel sie für ein Winterquartier verwenden kann.
Auf den Kompost kann ich sie nicht geben, denn Walnussblätter bauen sich lange nicht ab. „Komposti“ haben wir uns als Kinder zugerufen, wenn jemand etwas gesagt oder getan hat, das uns altmodisch erschienen ist. Ich muss schmunzeln, wenn ich daran denke. Bin ich auch schon ein „Komposti“?
Was wird einmal sein mit uns? Wohin gehen oder fallen wir? Der Dichter Rainer Maria Rilke formuliert so schön: „Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.“ Tief im Inneren teile ich diese Hoffnung. Da ist einer, der alles zusammenhält und verbindet. Da ist einer, bei dem wir gut aufgehoben sind.
Elisabeth Rathgeb
aus: Kopfsalat mit Herz.
Eine spirituelle Entdeckungsreise durch den Garten. 2021, Tyrolia
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.