30. Sonntag im Jahreskreis | 24. Oktober 2021
Meditation
Der Funke in der Mitte
Fasziniert betrachtet meine zweijährige Tochter eine Zirkusvorführung im Video: Eine Frau reitet auf zwei Pferden die Arena entlang; weitere Tiere kommen herein, laufen zwischen den beiden Pferden, auf denen die Frau stehend reitet, durch. Unzählige Male muss ich das Videoband zurückspulen, weil das kleine Mädchen ihre Frau auf den Pferden sehen will. Sie ist im Bann dieser Szene. Etwas in ihr bewegt sich mit und geht auf mich über.
Der vollendete Gleichklang von Frau und Tieren, die spielerische Leichtigkeit – bei größter körperlicher Anstrengung – strahlt Anmut, fast Grazie aus, Harmonie … Wie schön wird ein Mensch, wenn die Kräfte des Körpers und der Seele vereint sind!
Die Zirkusnummer ist mir zum Bild für das Leben geworden. Ist meine Geschichte Zickzackweg, Sackgasse, oder nähere ich mich in vielen Kurven einem (verborgenen) Ziel? In Augenblicken des Innehaltens erkenne ich wie aus der Vogelperspektive in dem Labyrinth den roten Faden, der sich durch alle Wagnisse, Fehlschläge und beglückenden Erfahrungen zieht. Da begreife und spüre ich, wie sehr ich von einem Geheimnis getragen bin. Ich kann es nie fassen, es bleibt unsichtbar wie die Mitte der Arena, und doch ordnet es alles. Es ist Mitte und Ziel zugleich. Religiöse Menschen sprechen von Gott, der in der Mitte des Herzens wohnt …
Nicht immer ist Umkreisen faszinierend. „Ich geh im Kreis“, wenn ich mit einem Problem nicht fertig werde. Eltern geben an ihre Kinder weiter, was sie vermeiden wollen. Verletzte verletzen, bedrückender Kreislauf der Not, die neue Not gebiert. Im Zirkus ist der Kreis nicht abgeschlossen. Pferde und Reiterin betreten die Arena und verlassen sie wieder. Wie finde ich die befreiende Öffnung? Wie entkomme ich dem erdrückenden Wiederholungszwang? Ist mein Lebensweg tödlicher Teufelskreis oder offene Spirale?
Die Bewegung jener Zirkusreiterin geht, fast unmerklich, auf das Kind und seine Umgebung über. Je mehr ein Mensch sich gefunden hat, umso mehr kann er über sich hinauswachsen. Im Herzen des Menschen beginnt die Veränderung der Welt. Kreisende Bewegung erfahre ich auch im Lauf des Jahres. Ist die Vielfalt des Kirchenjahres, eingebunden in den Wechsel der Jahreszeiten, ein Kreisen um die lebendige Mitte? Dann lädt die Feier dieses Jahres ein, den göttlichen Funken im eigenen Herzen und in der Welt zu entdecken und zu pflegen. So können die vielen Kräfte meines Ich und meiner Umgebung zum Einklang kommen.
Aus: Maria Riebl, Meine Freude werfe ich wie Vögel in den Himmel. Biblische Bilder des Kirchenjahres, Tyrolia Verlag 1993.
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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