16. Sonntag im Jahreskreis | 21. Juli 2024
Angekommen

Kap Finisterre an der Westküste von Galicien/Spanien | Foto: iStock.com

Ein alter Traum: Ausbrechen aus der Enge des Alltags. Allen Ballast und alle Verpflichtungen hinter mir lassen.
Früher hatten die Menschen noch einen ganz anderen Traum: Das Ende der Welt! Die Erde war eine flache Scheibe, hörte also irgendwo auf. Das musste ein ganz besonderer Ort sein.

Entsprechend groß war die Sehnsucht, ihn zu besuchen, um einen Blick über die Grenzen der Welt zu werfen.
Wer in Europa lange genug Richtung Westen zog, fand diesen Ort am Atlantik. Finis terrae hieß ein berühmter Pilgerort an der spanischen Atlantikküste: Ende der Erde.

Pilger und Abenteurer waren monatelang unterwegs, um an diesen Punkt zu gelangen, wo sich die begrenzte Welt mit ihren Wegen, Hügeln und Wäldern in der grenzenlosen Weite des Ozeans verlor.
Da standen sie dann und schauten in die Ferne. Vielleicht ahnten sie etwas von der „Fülle des Nichts“, wie sie in der Mystik beschrieben wird. Vielleicht beschlich sie angesichts des leeren Raums auch ein Gefühl der Verlorenheit. Oder beides miteinander.

Momente großer Ergriffenheit können ebenso beglückend wie erschreckend sein. Auf jeden Fall mussten sie stehen bleiben. Der Weg ging nicht mehr weiter. Sie waren angekommen.
Sie waren auf den staubigen Pfaden öfters an ihre Grenzen gestoßen. Jetzt entdeckten sie, dass ihre persönlichen Grenzen vor dem Hintergrund der endlosen Weite des Ozeans merkwürdig klein und unbedeutend wurden. Sie erfuhren eine Freiheit, welche die vielen Unfreiheiten ihres engen Lebens überstieg.

Viele waren gekrümmt gekommen, bedrückt von den Lasten ihres Lebens. Sie hofften, am Ende der Welt Entlastung zu finden und wieder aufrecht gehen zu können. Einige trugen auch die Lasten anderer Menschen nach Finis terrae. Das Ende der Welt war ein heiliger Ort.

Das Ende der Welt war aber nur eine vorübergehende Endstation. Nach ein paar Tagen oder Wochen traten die Pilger die Rückreise an. Vielleicht gingen sie leichter. Vielleicht trugen sie etwas von der grenzenlosen Weite von Finis terrae in ihre oft enge Welt.

Aus: Lorenz Marti, Wer hat dir den Weg gezeigt? Ein Hund!, Verlag Herder.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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