Trau dich, es ist dein Leben | Teil 04
Selbstwert

Das Ansehen vor sich selbst gilt es wiederzuentdecken. | Foto: Shutterstock

Alle Menschen empfinden Scham. Denn ob es einem passt oder nicht: Dieses unangenehme Gefühl gehört zur emotionalen Grundausstattung von uns Menschen. Wenn Scham nach einem greift, fühlt man sich wertlos, zu klein geraten oder irgendwie „daneben“. Sie vermittelt den Eindruck: „So wie ich bin, bin ich nicht okay!“, und wispert in einem: „Wenn andere dich sehen, wie du wirklich bist, werden sie dich links liegen lassen oder spöttisch belächeln!“

Besonders in nahen Beziehungen entfaltet Scham ihre Macht. Denn nichts ängstigt mehr, als von Menschen, die wir lieben, abgelehnt oder verächtlich belächelt zu werden. Wir schämen uns für unsere Schwächen und fürchten, nicht beachtet oder angegriffen zu werden. Wir fürchten, nicht mehr als liebenswert zu erscheinen, wenn wir unser inneres Kuddelmuddel outen. Kein Wunder, dass man sich lieber nicht so tief in die Karten schauen lässt, wenn es einem mies geht oder man sich ungenügend fühlt.

Zack! An diesem Punkt schlägt die Falle der Scham zu! Denn Scham bezieht ihre Macht daraus, dass sie einen Mantel des Schweigens ausbreitet über das Gefühl, fehlerhaft zu sein. Sie lebt von Geheimhaltung, denn sie macht einen glauben: „Wenn andere sehen, wie ungenügend und verletzlich du bist, werden sie dich ablehnen.“

Es gibt ein wirksames Gegenmittel gegen Scham: Die schambesetzte Geschichte mit Menschen zu teilen, denen wir vertrauen und die gut damit umgehen können. Das kostet viel Überwindung – ja, vielleicht fühlt man sich nackt und entblößt. Doch nur wer es wagt, sich in seiner Not zu offenbaren, kann Empathie erfahren. Und Empathie heilt. Sie gleicht einer Leiter, die einen aus dem Loch herausholt, in das man sich vor lauter Scham verkrochen hat.

Sehr lebendig steht mir eine aufschlussreiche Begebenheit vor Augen: Eine beruflich und privat herausfordernde Zeit brachte mich an meine Grenzen. Ich hatte das Gefühl, auf ganzer Linie zu versagen und bald keinen Fuß mehr vor den anderen setzen zu können. Aber ich hielt die Fassade des Funktionierens aufrecht, denn die anderen sollten unter keinen Umständen mitbekommen, wie es in meinem Innern aussah.

Die Pflege der Fassade kostete mich im-mens viel Energie. Vor allem aber manövrierte ich mich in eine wachsende Einsamkeit und Isolation hinein.

Mut fassen

Doch dann stolperte ich gewissermaßen über mich selbst. Genauer gesagt über meine Bilder und Fantasien, die meine Furcht befeuerten: In einem verborgenen Winkel meines Herzens hauste die Vorstellung: Meine Freunde und Bekannten warten nur darauf, dass ich mir eine Blöße gebe, um dann höhnisch über mich zu spotten oder mir die kalte Schulter zu zeigen.

Was für ein Blödsinn! Am Abend dieses Tages schrieb ich – inspiriert durch einen Text von Meike Winnemuth – in mein Tagebuch:

„Du kommst gut allein zurecht. Du strengst dich an, die Dinge so aussehen zu lassen, als ob dir alles locker von der Hand ginge. Auch jetzt bemühst du dich wahnsinnig darum. Und dein Umfeld fällt darauf herein – genau, wie du es willst. Aber nicht wollen solltest. Hör auf, alles kontrollieren zu wollen. Du kannst deinen Leuten vertrauen. Lass dir deine Ohnmacht und Ratlosigkeit, dein Scheitern und deine Selbstzweifel anmerken. Hab den Mut, verwundbar zu sein und dich zu zeigen. Du wirst nicht weniger geliebt werden.“

Ich fasste den Mut, mich fallen zu lassen und zu erzählen, wie es um mich stand. Meine Worte wirkten wie ein Zauberspruch, durch den die Scham plötzlich ihre Macht verlor. Die Nähe zu den Menschen, denen ich mich anvertraut hatte, gewann eine neue Tiefe. Und ich selbst ging mit mehr Selbstakzeptanz aus dieser Situation heraus.

Die Verunsicherung im Erleben des eigenen Selbstwertes, die sich in der Scham Bahn bricht, entpuppt sich in der Tiefe auch als eine spirituelle Verwundung: Wir können nicht mehr glauben, dass wir so, wie wir sind, wirklich liebenswürdig und wertvoll sind. In diese Richtung weist auch die biblische Erzählung, die vom Verlust des Paradieses berichtet: Der Mensch hat seine ursprüngliche Beheimatung verloren. Sein Gespür für seine göttliche Herkunft – und das meint: für das grundlegende Ja, das ihm und allen von jeher gilt – ist beeinträchtigt. Der Mensch hat sich in sich selbst verlaufen und findet nicht mehr zurück.

Es zieht sich wie ein roter Faden durch die Bibel: Gott macht sich immer wieder neu auf die Suche nach dem „verlorenen“ Menschen – in der Hoffnung, dass der Mensch seiner Freundschaft Glauben schenkt. Und nichts anderes will Jesus vermitteln, wenn er die schöne Nachricht verbreitet, dass jede und jeder unendlich geliebt ist. Wenn Jesus zur Umkehr ruft, redet er also keinem ethischen Hochleistungssport das Wort. Vielmehr geht es ihm um eine Umkehr der Blickrichtung: Nicht Leistung oder Macht, nicht Besitz oder Sozialprestige entscheiden über den Wert des Menschen, sondern jede und jeder ist immer schon Tochter oder Sohn Gottes. Jeder Mensch verdankt sich einem göttlichen Ursprung. Und in jedem und allem spiegelt sich Göttliches.

Gott macht sich immer wieder neu auf die Suche nach dem „verlorenen“ Menschen – in der Hoffnung, dass der Mensch seiner Freundschaft Glauben schenkt. 

Melanie Wolfers

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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