Christentum - Ein Reiseführer | Etappe 055
Reformation

Martin Luther am Reichstag in Worms. | Foto: wmc

Ringen um die Wahrheit

Gleichzeitig hatten Reichtum und Einfluss des Adels zu erheblichen sozialen Spannungen mit der Bauernschaft geführt, die in den Bauernkriegen 1525 ihre Zuspitzung erfuhren. Ein Teil des Klerus und der Hierarchie war geistig und moralisch verfallen. Ihren Niederschlag fanden die religiösen Missstände nicht zuletzt in der Praxis der Ablasspredigt, mit denen der Bau der Peterskirche in Rom finanziert werden sollte. Dem bekannten Ablassprediger Johannes Tetzel wird der Satz „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt“ zugeschrieben.

Im Kontrast dazu stand der Wandel im geistigen Profil der Zeit. Christoph Columbus hatte Amerika entdeckt, Nikolaus Kopernikus, Johannes Kepler und Galileo Galilei hatten mit ihren Entdeckungen den traditionellen Blick auf die Welt erschüttert. In der Welt der Renaissance und des Humanismus entwickelten sich eine neue Freude am Diesseits und eine Rückbesinnung auf die Ideale der Antike, welche die religiösen Leitvorstellungen in den Hintergrund geraten ließ.

In diesem Kontext muss eine gerechte Beurteilung der Reformation gesehen werden. Auch wenn sie heute fast ausschließlich mit dem Namen Martin Luther in Verbindung gebracht wird, darf nicht vergessen werden, dass bereits vorher verschiedene Kritik an der Verweltlichung der Kirche durch Einzelne (z. B. John Wyclif, Jan Hus, Erasmus von Rotterdam) oder durch die Orden und ihre Gründer geübt wurde. Obwohl das theologische Denken Luthers oft sehr komplex ist, lässt sich seine Theologie mit den vierfachen Sola/Solus (siehe Seite 9) zusammenfassen, die bis heute als theologische Grundsätze der Reformation und entscheidende Eckpunkte evangelischer Theologie gelten.

Auf der Basis dieser Grundentscheidungen entwickelte sich in der Folgezeit ein Verständnis von Kirche, das sich von dem katholischen unterscheidet. Die katholische Kirche sah sich als eine zum Heil notwendige Mittlerinstitution, die allein die rechte Auslegung des Glaubens verbürgen kann. In der Hierarchie sah der Katholizismus eine von Gott gewollte Ordnung, während Martin Luther ein „allgemeines Priestertum“ der Gläubigen vertrat und eine sakramentale Verfassung des geistlichen Standes ablehnte. Gegenüber der katholischen Glaubenswelt, die auf dem Gehorsam gegenüber den geistlichen Autoritäten besteht, betonen die Kirchen der Reformation bis heute stärker die Freiheit des Einzelnen. Heute können in ihnen Frauen alle Ämter innehaben, und auch eine Verpflichtung zur Ehelosigkeit ist nicht bekannt. Ein zentraler Unterschied findet sich auch im Verständnis sowie in Zahl und Begründung der Sakramente. Martin Luther will gegenüber der Siebenzahl nur drei Sakramente anerkennen: Taufe, Buße und Abendmahl.

Besonders Unterschiede gegenüber dem römisch-katholischen Eucharistieverständnis bereiten bis heute Schwierigkeiten im ökumenischen Gespräch. Nach römisch-katholischer Lehre ist Christi Leib und Blut wirklich, real in den Gaben von Brot und Wein gegenwärtig, während manche Ansätze reformatorischer Kirchen eher auf einen Zeichen- und Symbolcharakter abheben.

Die Folgen der Kirchenspaltung waren von ungeheurer Reichweite: Nach der lutherischen Kirche in Deutschland entwickelten sich weitere protestantische Gemeinschaften, vor allem in der Schweiz und bald darauf in England. Die seit Karl dem Großen bestehende Einheit des Reiches drohte zu zerbrechen. Bedeutende Fürstentümer kehrten dem Katholizismus den Rücken und wandten sich der neuen Lehre zu, nicht ohne ihre Untertanen ebenfalls darauf zu verpflichten.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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