Rituale
Nicht nur Floskeln

Rituale gestalten und deuten weltweit das menschliche Zusammenleben. Im Bild: Japanische Geschäftsleute, die sich nach traditionellem Brauch bei der Formalisierung von gelungenen Geschäften voreinander verbeugen. | Foto: iStock
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  • Rituale gestalten und deuten weltweit das menschliche Zusammenleben. Im Bild: Japanische Geschäftsleute, die sich nach traditionellem Brauch bei der Formalisierung von gelungenen Geschäften voreinander verbeugen.
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Rituale sind eine Grammatik für das Miteinander.

Wenn von Ritualen die Rede ist, denken die meisten an Dinge, die in der Kirche passieren. Rituale sind dort Teile einer Handlung, die zum Gottesdienst gehören. Man denke nur an die Trauung: Da gibt es das Ritual des gegenseitigen Treueversprechens, die Brautleute stecken sich gegenseitig den Ring an, man zündet gemeinsam die Trauungskerze an. Oder bei der Taufe: Der Priester gießt dem Täufling Wasser über den Kopf, er salbt ihn mit Öl – all das zusammen mit den Deuteworten, die ausdrücken, warum das geschieht.

Rituale sind Teil des Ritus und erzeugen eine für die Teilnehmer gemeinsame Handlung, schaffen bei den Anwesenden Zustimmung zum Geschehen, dem sie beiwohnen.
Was man in der Kirche sieht, geschieht ähnlich auch bei privaten Feiern. In jeder Familie gibt es ein Ritual, nach dem die Feier des Heiligen Abends abläuft. Oder bei einem Geburtstag: Da gibt es Rituale, nach denen man dem Geburtstagskind Glückwünsche ausspricht oder die Geschenke überreicht.

Und dann gibt es Rituale im öffentlichen Leben: Eine Maturafeier folgt einem Ritual, die Eröffnung eines Symposiums oder der Start eines Turniers. Beim Militär gab es früher – so habe ich es selbst noch erlebt – das Aufziehen und das Einholen der Fahne. In all diesen Fällen geschieht etwas, das Menschen zur Gemeinschaft verbindet und die Zustimmung zu ihrem Sinn festigt.
Es ist leicht sich vorzustellen, was passiert, wenn es keine Rituale mehr gäbe: Wir haben dann nur mehr einzelne Individuen, von denen alle für sich ihren Weg gehen, ihre Interessen verfolgen, ihren Spaß suchen. Stellen wir uns vor, wir kennten nicht das Ritual des Einander-Zuprostens bei einer Feier: Jeder trinkt dann vor sich hin, genießt still (oder laut) in sich hinein. Wie wichtig, dass es das Ritual eines gemeinsam gesungenen Liedes gibt! Oder denken wir an das Ritual des Bittens zum Tanz. Die Tanzfläche würde zum Turnierplatz für die Schnellsten, die sich ihre Partnerin „schnappen“.

Eines der schönsten Ritual-Beispiele stammt vom jüdisch-litauischen Philosophen Emmanuel Levinas. Beim Eintreten in ein Haus, in einen Saal, verlangt die Höflichkeit, dass man dem Menschen, mit dem man an die Tür kommt, sagt: „Nach Ihnen!“ Was für ein herrliches Ritual, dem andern den Vortritt zu lassen! Levinas macht das zum Schlüsselwort für die Grundeinstellung zu anderen Menschen.

Rituale sind nicht „nur“ Regeln oder Floskeln. Sie sind, wie in der Grammatik, Voraussetzungen für ein gutes, beherrschtes, humanes und vor allem für ein freudvolles Miteinander.

P. Willibald Hopfgartner OFMwar Lehrer für Deutsch, Philosophie und Religion. Er lebt im Franziskanerkloster Graz.

SYMPOSIUM | TEIL 2

Gestaltete Zeit

Die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Graz und die Franziskanerprovinz Austria zum Heiligen Leopold in Österreich und Südtirol verbindet seit dem Studienjahr 2008/09 eine fruchtbare Kooperation.
Ziel der Partnerschaft ist die gegenseitige Bereicherung, insbesondere eine Verbindung von wissenschaftlicher Lehre und Forschung auf der einen und franziskanischer Spiritualität, Philosophie und Theologie auf der anderen Seite.

In der diesjährigen Tagung im Rahmen dieser Kooperation wird dem Phänomen „Ritual“ aus unterschiedlichen Perspektiven nachgegangen. Neben den positiven, affirmativen Aspekten sollen auch kritische Bereiche des Rituals und der Ritualisierung angesprochen werden.

Weitere Infos und Anmeldung:
franziskaner.uni-graz.at/de/

Symposium

Rituale
Soziales Band und
Fenster zum Sinn

Montag, 28. Oktober 2024,
18 Uhr
Aula der Universität Graz
Dienstag, 29. Oktober 2024, ab 9 Uhr
Franziskanerplatz 14, Graz

Rituale gestalten und deuten weltweit das menschliche Zusammenleben. Im Bild: Japanische Geschäftsleute, die sich nach traditionellem Brauch bei der Formalisierung von gelungenen Geschäften voreinander verbeugen. | Foto: iStock
P. Willibald Hopfgartner OFM war Lehrer für Deutsch, Philosophie und Religion. Er lebt im Franziskanerkloster Graz. | Foto: Neuhold
Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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