Die Kunst des Vergebens | Teil 04
Mit den Augen des Herzens

 Der wohlwollende Blick, mit dem man Kindern beim Spiel zusieht, kann eine Schule für die Haltung sein, in der man auch sonst Menschen begegnet. | Foto: Fotolia
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  • Der wohlwollende Blick, mit dem man Kindern beim Spiel zusieht, kann eine Schule für die Haltung sein, in der man auch sonst Menschen begegnet.
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Im Schmerz der Kränkung neigen Menschen oft zu einseitigen Deutungen eines Vorfalls, etwa: „Ich bin an allem schuld!“ Oder: „Der andere ist das schwarze Schaf, und ich bin das arme Unschuldslamm.“ Der Weg der inneren Aussöhnung möchte aus einem solchen Schwarz-Weiß-Denken herausfüh-
ren.

Denn wer eine realistischere Sicht vom anderen und von sich selbst sowie den eigenen Anteilen am Konflikt gewinnt, kann die erlittene Verletzung gedanklich leichter verarbeiten.

Gründe sehen

Wenn jeder von jedem alles wüsste, würde jeder jedem gerne verzeihen. Diese markante Aussage von Rabindranath Tagore findet in ihrer Totalität sicher nicht den Zuspruch aller. Doch sie macht auf einen entscheidenden Gesichtspunkt aufmerksam: Menschen haben meistens Gründe für ihr Handeln. Je besser ich die Umstände und Motive verstehe, die eine andere Person zu ihrem verletzenden Verhalten geführt haben, umso eher werde ich ins Auge fassen, ihr die Sache nicht mehr nachzutragen.

Um Missverständnisse zu vermeiden, sei betont: Vergeben darf nicht mit Dulden oder Entschuldigen verwechselt werden! Wenn ich die Beweggründe eines anderen nachvollziehen kann, heißt dies weder, dass ich diese damit auch rechtfertige, noch dass ich das Verhalten entschuldige oder dulde. Wohl aber können durch die Perspektivenerweiterung Empfindungen wie Groll oder Verachtung langsam abflachen. Mein Blick auf den Übeltäter wird verständnisvoller, und ich bin eher bereit, die Sache „gut sein“ zu lassen.

Die Wahrnehmung einer Person, die Sie verletzt hat, kann weiter und realistischer werden, indem Sie verschiedene Gesichtspunkte berücksichtigen, etwa die konkrete Verletzungssituation: Wie sahen die Umstände der Person zu der Zeit aus, als es zu ihrem kränkenden Verhalten kam? Auch die Lebensgeschichte und der Charakter Ihres Gegenübers brauchen Berücksichtigung.

Darüber hinaus ist es wichtig, sich in Erinnerung zu rufen: Jedes Verhalten kann unterschiedlich gedeutet werden. Somit kann sich jemand durch eine Tat verletzt fühlen, die der andere gar nicht so „gemeint“ hat. Das Faktum, dass wir uns verletzt fühlen, bedeutet ja noch nicht, dass wir tatsächlich Opfer eines Unrechts sind! Manches, was tief gekränkt hat, geschah möglicherweise aus Gedankenlosigkeit oder entpuppt sich als ein Missverständnis.

Ein ehrlicher Blick auf sich selbst

In der Regel gehören zu einem Kränkungskonflikt – mindestens – zwei. Diese Aussage ist in ihrer Allgemeinheit leicht zu bejahen, doch sie im konkreten Leben zu beherzigen fällt ungleich schwerer. Es gibt offenkundig eine Rechthaberei in der menschlichen Seele, die nichts mehr scheut als das Eingeständnis – und sei es auch nur vor sich selbst –, an einem verletzenden Eklat Mitverantwortung zu tragen. Der psychische Gewinn einer solchen Haltung liegt auf der Hand: Je mehr ich unter den Fehlern anderer leide, desto weniger leide ich unter meinen eigenen (Georg Berndt)!

Für den Prozess des Vergebens ist es unabdingbar, sich selbst realistischer wahrzunehmen. Natürlich ist es weder angenehm noch einfach, die eigene Mitverantwortung am Kränkungskonflikt zu erkennen und anzuerkennen. Doch je mehr einem die eigenen Anteile bewusst werden, umso leichter kann man den Weg der Vergebung gehen. Ja, vielleicht entdecke ich sogar, dass ich dem anderen gar nicht so viel zu vergeben habe, wie ich bisher glaubte.

Man sieht nur mit dem Herzen gut

Der christliche Glaube lädt ein, die Welt mit den „Augen Gottes“ anzuschauen. Oder mit Augustinus gesagt: Die Aufgabe des Lebens liegt darin, dass die „Augen des Herzens“ heilen. Was ist damit gemeint? Antoine de Saint-Exupéry eröffnet einen Zugang, wenn er den kleinen Prinzen sprechen lässt: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Mit dem Herzen schauen wir Menschen tiefer als mit einem rein analytischen Verstandesblick. Wir können eine Verbundenheit wahrnehmen, die selbst den Konfliktgegner umfasst und in der auch wir selbst mit all unseren ungeliebten Schattenseiten Platz haben.

Meditation und Gebet vermögen uns zu einem Ort zu führen, wo wir eine solche Sicht gewinnen. Meditierend können wir uns und unser Gegenüber in das Licht Gottes stellen. Denn Gott lässt seine Sonne scheinen für Gute und Böse (vgl. Matthäus 5,45). So können wir zunehmend lernen, die andere Person und uns selbst als Teil einer größeren göttlichen Wirklichkeit zu sehen und zu achten. Und diese Hinsicht verändert vieles!

 

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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