Trau dich, es ist dein Leben | Teil 05
Inwärts

In der Stille verstummen die Stimmen, die von einem etwas wollen. Ich kann da sein, ohne etwas leisten zu müssen. | Foto: Shutterstock/Von Hatsaniuk
  • In der Stille verstummen die Stimmen, die von einem etwas wollen. Ich kann da sein, ohne etwas leisten zu müssen.
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Stellen Sie sich vor, Sie bekommen die Leitung eines weltweiten Unternehmens übertragen. Täglich schreiben Ihnen sehr viele Menschen. Sie tragen Verantwortung für Niederlassungen auf dem ganzen Globus mit Tausenden von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Wie würde es Ihnen gehen?

Vielleicht würden Sie die Ernennung an die Spitze des Unternehmens als eine Ehre empfinden. Vermutlich aber auch als eine Überforderung.

So ist es jenem Mönch ergangen, der im Jahr 1145 zum Papst gewählt worden ist: Eugen III.

In seinem Amt entwickelt er sich zu einem klassischen Workaholic. Es ist so viel zu tun, dass er eigentlich nie richtig zur Ruhe kommt. Sein früherer geistlicher Lehrer, Bernhard von Clairvaux, will ihm die Augen öffnen, wie lebensschädigend ein Alltag, „eingekeilt in zahlreichen Beschäftigungen“, auf Dauer wirkt. In einem Brief rät er dem Papst, kürzerzutreten: „Es ist viel klüger, Du entziehst Dich von Zeit zu Zeit Deinen Beschäftigungen, als dass sie Dich ziehen und Dich nach und nach an einen Punkt führen, an dem Du nicht landen willst. An den Punkt, wo das Herz anfängt, hart zu werden.“

Für Bernhard ist das „harte Herz“ ein Ausdruck dafür, dass ein Mensch das Gespür für sich und die anderen verloren hat und für das, was jetzt dran ist. Und er fragt ganz direkt: „Wie kannst Du voll und echt Mensch sein, wenn Du Dich selbst verloren hast?“ Und er fährt fort: „Denk also daran: Gönne Dich Dir selbst.“

Die Aufforderung „Gönne dich dir selbst!“ steht quer zu zeitgenössischen Versuchen, sich ständig selbst zu optimieren. Wer eigene Grenzen wahrnimmt und wahrt, widersetzt sich dem heillosen Imperativ: „Verbessere dich, denn die Möglichkeiten sind da!“ Ebenso steht der Rat „Gönne dich dir selbst!“ in Spannung zu der Erwartung „Sei vor allem für andere da!“ – einer Erwartung, die gerade in christlichen Kreisen gerne gepflegt wird.

Sich selbst Zeit gönnen: Das klingt simpel – und erweist sich im Konkreten oft als ungeheuer schwer. Und doch: Nur wer regelmäßig inne hält, findet Halt in sich selbst. Nur wer regelmäßig bei sich selbst eincheckt, steht im Kontakt mit seinem Innern und wird dem auf die Spur kommen, was ihm wirklich wichtig ist. Kurz gesagt: Die Basisvoraussetzung für ein beherztes Leben liegt in einer Kultur des Innehaltens. Nur wer inne hält, findet einen Halt in sich selbst und kann ein couragiertes Leben führen.

Besonders intensiv kann man sich selbst begegnen, wenn die Stimmen um einen herum zum Schweigen kommen. Eine solche „Verabredung mit der Stille“ fordert deswegen so heraus, weil wir jetzt einer Person direkt ausgeliefert sind: uns selbst. Wenn das geschäftige Grundrauschen verebbt, taucht auf, wovor wir ansonsten mit kleinen Tricks fliehen: Einsamkeit oder Ausweglosigkeit, Schuld oder Eifersucht. Und dem weicht man lieber aus. Karl Valentin bringt es selbstironisch auf den Punkt: „Morgen gehe ich mich besuchen. Hoffentlich bin ich zu Hause!“

All das zeigt: Um eine tiefe Aufmerksamkeit für die eigene Existenz zu entwickeln, braucht es Mut! Und eine bewusste Lebenskultur. Wenn wir ein couragiertes Leben führen wollen, dann müssen wir uns und unseren Alltag immer wieder auch aus einem Abstand heraus betrachten. Es braucht Zeiten und Räume, in denen wir auf den Nachklang von Begegnungen und Ereignissen hören und über die eigenen Motive und Wünsche nachsinnen. Entsprechend hilfreich kann es sein, Gewohnheiten zu entwickeln, die einem ein Time-off ermöglichen – sei es im Tages- oder Wochenverlauf.


Was passiert, wenn nichts passiert?

Stille hat eine beruhigende und heilende Kraft. Die Stimmen, die etwas von einem wollen, verstummen: äußere Ansprüche und innere To-do-Listen, die Stimme des Ehrgeizes und die Angst, nicht zu genügen. In der Stille lässt sich erleben: „Ich kann einfach da sein, ohne etwas leisten oder machen zu müssen. Nichts und niemand will etwas von mir – nicht einmal ich selbst.“

In dem Maß, in dem jemand – immer wieder neu – den inneren „Raum der Stille“ aufsucht, wird er oder sie bei sich selbst ankommen. Ich persönlich erfahre dies auch als ein spirituelles Geschehen. Denn wenn ich näher zu mir selbst finde, erahne ich zugleich einen umfassenderen Grund, der mich und alles von innen her trägt. Und umgekehrt: Je mehr ich in Berührung komme mit dem göttlichen Geheimnis, umso mehr komme ich in Kontakt mit mir und der Welt.

Oder wie Bernhard von Clairvaux schreibt: „Geh deinem Gott entgegen bis zu dir selbst.“

Nur wer innehält, findet einen Halt in sich selbst und kann ein couragiertes Leben führen.

Melanie Wolfers

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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