SONNTAG. Der Tag zum Leben | Teil 19
In Zeit und Raum
Die Göttliche Liturgie ist der Mittelpunkt des Lebens der Kirche. Sie ist die Versammlung der Gläubigen in der Zeit und im Raum. Sie holt uns aus der Zerstreuung heraus und versammelt uns zu dem, was wir durch die Taufe geworden sind: der Leib Christi. Die Versammlung der Eucharistie, die seit den frühesten Zeiten „synaxis“ genannt wird, ist die „Darstellung“ dieses Leibes, die Vereinigung der vielen Glieder mit dem einen Haupt Christus in der Kraft des Heiligen Geistes. Der Tod und die Auferstehung Christi ereignen sich in der Göttlichen Liturgie an allen, die das Fleisch gewordene göttliche Wort empfangen: „Allen aber, die Ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden.“ (Joh 1,12)
Keiner von uns kann für sich allein diesen Leib Christi darstellen. Die Kirche ist ja im Wortsinn die Gemeinschaft der durch den Glauben an Christus Versammelten. Die eucharistische Versammlung macht uns zu dem, was wir sind.
„Gepriesen sei das Reich des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!“
Diese Versammlung hat ein Urbild: die Heilige Dreiheit, den vorewigen „Konvent“ der Göttlichen Personen. Anders als seine Mitgeschöpfe ist der Mensch nicht nur durch einen göttlichen Befehl ins Dasein getreten. Der Schöpfungsakt, aus dem der Mensch nach Gottes „Bild und Gleichnis“ hervorgeht, ist die Zwiesprache, der Dialog der göttlichen Personen: „Lasst uns den Menschen schaffen…“ Die Göttliche Liturgie ist diejenige Versammlung, durch die wir uns, jeder Einzelne und alle gemeinsam, als Bild und Gleichnis der Heiligen Dreiheit erkennen und verwirklichen: „Lasset uns einander lieben, damit wir eines Sinnes bekennen – den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, die wesenseine und unteilbare Dreiheit.“ Die Göttliche Liturgie ist ein Abbild dieses Dialoges und eine Neuschöpfung des Menschen in der Gemeinschaft der Heiligen. Die Versammlung ermöglicht die „Kommunion“ (koinonia), die uns kat’ eikona auf die Heilige Dreiheit bezieht. Kein Mensch kann für sich selbst sein, was er als Gottes Bild, kat’ eikona, ist.
Göttliche Liturgie als Versammlung/synaxis geschieht auf zwei Ebenen: erstens der physischen und zweitens der metaphysischen.
Zur physischen Ebene gehören:
- das Zusammenkommen im konkreten Sinn des Kommens, des Sich-Einfindens, des gemeinschaftlichen Anwesend-Seins;
- der Raum der Zusammenkunft: die Kirche im Sinn des Tempels (naos) und seiner Struktur: die Architektur, die Ikonen, also die Organisation des Raumes – die synchrone Präsenz;
- die liturgische Handlung – die diachrone Präsenz.
Die metaphysische, die eigentliche Versammlung geschieht durch die Kraft des Heiligen Geistes. So singen wir zum Beispiel in der Vesper vom Palmsonntag: „Heute hat uns versammelt die Gnade des Heiligen Geistes…“ Die Bereitung durch das Fasten mündet in die Feier des Todes und der Auferstehung des Herrn.
In der Basiliusliturgie heißt es unmittelbar nach der Epiklese: „Uns alle aber, die wir teilnehmen an dem einen Leib und dem einen Kelch, vereinige miteinander zur Einheit des einen Heiligen Geistes.“ In der liturgischen Versammlung finden wir zu der Einheit, in der Christus, der neue Adam, alles in allen ist. Das vollkommene Bild dieser Versammlung ist die liturgische Feier als solche, aber auch die Darstellung der ganzen Kirche auf dem Diskos (der Patene).
Woran liegt es, dass wir die Liturgie oft nicht als diese Versammlung und Geburt und Einverleibung in den Leib des neuen Adam Christus und damit als den eigentlichen Wandel und die Erneuerung unseres Daseins erfahren? Wir wollen uns einigen Fehlhaltungen und Missdeutungen zuwenden, die diese Wirklichkeit verdunkeln.
Die Individualisierung des liturgischen Lebens
Damit meinen wir den Umstand, dass viele Gläubige die Häufigkeit und die Art ihrer Teilnahme am Gottesdienst von ihren ganz individuellen religiösen Bedürfnissen abhängig machen. Taufe, Krönung (Trauung), Krankensalbung, Beichte, Kommunion, Totengedächtnis, Brotsegnung, ja sogar die Göttliche Liturgie selbst werden „nach Bedarf“ erbeten bzw. „bestellt“ und „individuell“ vollzogen. Dahinter steht die verbreitete Vorstellung, dass die Kirche in der Person des Priesters eine Dienstleistung garantiert, die die individuellen Bedürfnisse der Gläubigen „bedient“. An die Stelle der „Versammlung“, des Gottesdienstes der Gemeinde, tritt eine weitgehend „private“ seelsorgliche „Betreuung“ gläubiger Individuen, die oft sogar tariflich geregelt ist.
Im Vergleich mit dieser „Primärversorgung“ wird der öffentliche Gottesdienst der Kirche im Rhythmus des Tages, der Woche, des Jahres, des lunaren und des solaren Zyklus zweitrangig und weitgehend zu einem Gegenstand der Beliebigkeit.
Vater Alexander Schmemann schreibt dazu resümierend in seinem posthum erschienenen Buch „The Eucharist“: „Es sollte jetzt offensichtlich sein, in welchem Ausmaß die gegenwärtige Praxis ‚individueller‘ Einzüge in den Tempel in jedem Augenblick des Gottesdienstes dem Wesen der Eucharistie Gewalt antut. Jemand, der seine ‚Individualität‘ und ‚Freiheit‘ in dieser Weise behauptet, hat das Mysterium der Kirche nicht verstanden. Er nimmt nicht teil am Sakrament der Versammlung, an diesem Wunder der Wiedervereinigung der fragmentierten sündigen menschlichen Natur in der gottmenschlichen Einheit Jesu Christi.“
Erzpriester Peter Sonntag
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.