Werke der Barmherzigkeit mit P. Anselm Grün | Teil 04
Ich war nackt.

Der Finger, mit dem jemand auf andere weist, sagt auch etwas über dessen eigenen Charakter aus. | Foto: Tyler Olson Photography
  • Der Finger, mit dem jemand auf andere weist, sagt auch etwas über dessen eigenen Charakter aus.
  • Foto: Tyler Olson Photography
  • hochgeladen von SONNTAGSBLATT Redaktion

Kaum ein anderer Heiliger ist so ins Bewusstsein der Menschen getreten wie der hl. Martin mit dem Mantel, den er geteilt und einem Bettler geschenkt hat. Wir alle kennen die Legende, dass dem jungen Martin nach dieser spontanen Tat des Teilens im Traum Christus selbst erschienen ist und ihm gezeigt hat, dass er letztlich ihm den Mantel geschenkt hat.

In dieser Legende wird die Gerichtsrede Jesu aus dem Matthäusevangelium Wirklichkeit. Martin wusste nicht, dass er im Bettler Christus selber begegnet. Er hat seinen Mantel einfach geteilt, weil ihn der frierende Bettler berührt hat. Erst nach seiner Tat erkannte er, dass er in dem Bettler Christus selbst begegnet ist.

Kleider spenden
Heute gibt es viele Kleidersammlungen, um armen Menschen in Notgebieten zu helfen. Oft werden abgetragene Kleider auf diese Weise praktisch entsorgt, und mit dem, was man selber nicht brauchen kann, hilft man noch anderen.

Es gibt natürlich auch Menschen, die bei den Kleidersammlungen ihre guten Kleider hergeben. Sie trennen sich von den guten Kleidern, weil sie diese nicht mehr brauchen, aber auch, weil sie bewusst einfacher leben wollen. Und es gibt Menschen, die bewusst ihre guten Sachen hergeben, um mit ihren schönen Kleidern anderen eine Freude zu machen. In all diesen Formen der Kleider-sammlungen wird das Gebot Jesu erfüllt, Nackte zu kleiden. Doch Jesus meint mit diesem Werk der Barmherzigkeit noch etwas anderes.

Bloßgestellt
Nacktsein hat einen tieferen Sinn. Menschen fühlen sich oft bloßgestellt, wenn sie öffentlich kritisiert oder an den Pranger gestellt werden, wenn man ihre Taten und Gedanken in der Öffentlichkeit diskutiert und oft genug verfälscht. Sie können sich nicht wehren gegen die Vorurteile, die ihnen entgegenkommen. Und sie können sich nicht wehren gegenüber Gerüchten, die in Umlauf kommen, ohne dass sie einen realen Grund hätten.
Doch allein die Tatsache, dass das Gerücht erzählt wird, stellt einen Menschen nackt in die Öffentlichkeit.

Einen solchen Menschen zu bedecken, das ist ein Werk der Barmherzigkeit. Anstatt mitzureden und mit dem Finger auf andere zu zeigen, über die das oder jenes geredet wird, braucht es Mut, diesen Menschen zu bedecken, ihn zu schützen, sich vor ihn zu stellen, für ihn Partei zu ergreifen, auch mit dem Risiko, selbst ins Kreuzfeuer der Kritik zu geraten.

Sie schämten sich
Adam und Eva waren im Paradies nackt. Sie lebten im Einklang mit Gott. Sie brauchten nichts zu verstecken. Doch nach dem Sündenfall „gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz.“ (Gen 3,7) Sie schämten sich ihrer Nacktheit. Diese Scham kennt jeder, der sich andern gegenüber nackt fühlt, der sein Innerstes vor ihnen nicht verbergen kann. In der Taufe bekommen wir ein weißes Gewand angezogen. Der Priester zitiert dabei die Stelle aus dem Galaterbrief: „Ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus als Gewand angelegt.“ (Gen 3,27)

Das heilige Gewand
Wir sind in der Taufe mit einem heiligen Gewand bekleidet worden. In diesem Ritus des weißen Gewandes üben wir uns ein, dass wir den anderen so anschauen, als ob er sich mit einem schönen Gewand umkleidet fühlt, mit dem Gewand göttlicher Herrlichkeit. Als der verlorene Sohn heimkommt, lässt der barmherzige Vater das beste Gewand holen und es ihn anziehen. Gottes Liebe ist wie ein Gewand, das uns schützt. Und so sollen auch wir die Menschen, die uns in ihrer Nacktheit und Blöße begegnen, mit dem Gewand der Liebe bekleiden, damit sie sich bedeckt fühlen.

[p]
 Anstatt mit dem Finger auf andere zu zeigen, über die das oder jenes geredet wird, braucht es Mut, diesen Menschen zu bedecken, ihn zu schützen, sich vor ihn zu stellen.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.

Powered by PEIQ