Werke der Barmherzigkeit mit P. Anselm Grün | Teil 05
Ich war krank
Wenn ein Verwandter im Krankenhaus liegt, besuchen wir ihn selbstverständlich. Aber ist es wirklich immer ein Besuch? Besuchen kommt im Deutschen von suchen. Ich suche intensiv nach dem andern. Ich möchte heraus-suchen, wo er steht. Besuchen meint also, ein Interesse am andern haben. Ich mache mich auf die Suche, um ihn wirklich zu finden.
Im Griechischen (episkeptomai) und Lateinischen (visitare) liegt der Akzent auf dem Sehen, genau hinsehen, betrachten, überlegen.
Wie geht es wirklich?
Wenn ich jemanden besuche, dann schaue ich ihn mir genau an. Ich betrachte ihn nicht nur äußerlich, sondern ich versuche, in ihn hineinzuschauen, mich in ihn hineinzumeditieren. Ich frage mich, was ihn bewegt, wie es ihm wirklich geht. Ich habe Interesse an ihm. Ich schaue, um die Wahrheit zu sehen. Viele Besucher wollen gar nicht sehen, wie es dem andern wirklich geht. Sie haben Angst, seine Wahrheit ins Auge zu nehmen. Denn dann müssten sie ja auch die eigene Wahrheit anschauen.
Bei vielen Besuchen hat man den Eindruck, dass die Besucher nicht wirklich hören wollen, wie es dem Kranken geht. Vor allem wenn er schwer krank ist und in Todesgefahr schwebt, möchten viele seine Andeutungen, dass es ernst um ihn steht, sofort zudecken mit den Beschwichtigungen, dass alles gut werden wird, dass der Kranke schon bald aus dem Krankenhaus entlassen und wieder ganz gesund werden wird. Der Kranke weiß genau, dass das nicht stimmt. Aber auch er hat oft Angst, seine Angehörigen zu verunsichern. Er möchte sie nicht belasten mit seiner Krankengeschichte und mit seiner Angst vor dem Tod.
Nach dem Kranken sehen.
Ein Lehrer erzählte mir, dass er ein halbes Jahr krank war. Von seiner Schule hat ihn niemand besucht, weder sein Chef noch die Kollegen. Das hat ihn sehr verletzt. Er hat sich für die Schule sehr stark eingesetzt. Daher wurde er krank. Doch niemand hat ihn gewürdigt. Niemand hat nach ihm gesehen. Niemand hat sich dafür interessiert, wie es ihm wirklich geht. Oft ist es Unsicherheit und Hilflosigkeit.
In einer Firma war der Abteilungsleiter im Krankenhaus. Auch da hat sich niemand getraut, ihn zu besuchen. Alle fragten die Sekretärin, wie es dem Kranken ginge. Aber keiner hatte den Mut, ihn selber anzurufen. Was diese sonst so starken Männer abgehalten hat, ihren kranken Kollegen zu besuchen, kann ich nicht sagen. Ich kann nur vermuten. Vielleicht war es die Verunsicherung durch seine Krankheit. Sie würden ja dadurch daran erinnert, dass sie auch krank werden könnten. Vielleicht war es auch die Unsicherheit, wie sie dem Kollegen, den sie sonst immer als stark erlebt haben, in seiner Krankheit begegnen sollen. Vielleicht genierten sie sich, dem Kranken und Schwachen zu begegnen. Alle bisherigen Formen der Kommunikation würden da nicht mehr stimmen. Das Pochen auf die Erfolge wäre deplatziert.
Gott ist beim Kranken.
Jesus sagt, dass wir in jedem Kranken ihn selbst besuchen. Jesus radikalisiert hier eine Einsicht, die schon die jüdische Spiritualität prägt. Es gibt in der jüdischen Tradition eine Anweisung beim Krankenbesuch: „Wenn man einen Kranken besucht, setze man sich nicht auf sein Bett. Warum? Weil dort die Gegenwart Gottes weilt, wie die Schrift sagt: Der Herr stützt ihn auf dem Lager seiner Krankheit.“
Die Alten waren überzeugt, dass wir im Kranken nicht nur dem begegnen, der unser Mitleid erregt, sondern auch dem, der eine kostbare Perle in sich birgt, der uns etwas zu schenken hat. Den Kranken besuchen bedeutet, ihn mit Augen des Glaubens anzuschauen. Dann werde ich vom Besuch als Beschenkter zurückgehen. Manchmal sehe ich ein Leuchten in den Augen eines Sterbenskranken. Er ist durchlässig geworden für Christus. Oder ich bin erbaut von seinem Glauben und seiner Bereitschaft, sich Gott zu überlassen.
Haben wir schon Hemmungen, körperlich Kranke zu besuchen, so fällt es uns oft noch schwerer, zu psychisch Kranken zu gehen und mit ihnen in ein persönliches Gespräch zu kommen. Oft flüchten wir uns dann in Allgemeinplätze. Wir trauen uns nicht, ehrlich über die Depression oder über die Psychose zu sprechen.
Im Abgrund der Seele.
Und doch leiden heute viele unter Depressionen. Besuchen würde bedeuten, wirklich hinzuschauen, was diesen Menschen belastet. Das griechische Wort für besuchen (episkeptomai) meint ein Schauen, das von wirklichem Interesse für den andern geprägt ist. Ich möchte nicht nur nach dem andern sehen, sondern ihn genau betrachten, um zu sehen, wie es ihm geht. Dabei muss mein Blick frei sein von allem Bewerten.
Oft schauen wir nicht hinein in die Krankheit, weil wir sonst in den Abgrund der eigenen Seele schauen würden. So ist das fünfte Werk der Barmherzigkeit, Kranke zu besuchen, heute aktueller denn je.
Barmherzigkeit heißt, dass ich nicht nur das Arme und Elende im Kranken sehe, sondern auch in mir selbst. Im Kranken sehe ich mich selbst wie in einem Spiegel. Aber ich sehe auch im psychisch Kranken nicht nur das Beschädigte, sondern oft genug etwas Kostbares.
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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