Serie zur Sozialenzyklika "Fratelli tutti" | Teil 02
Die Schatten einer abgeschotteten Welt

Ein Weg der Geschwisterlichkeit, im Kleinen wie im Großen, kann nur von freien Geistern beschritten werden, die zu wirklichen Begegnungen bereit sind. | Foto: Neuhold
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  • Ein Weg der Geschwisterlichkeit, im Kleinen wie im Großen, kann nur von freien Geistern beschritten werden, die zu wirklichen Begegnungen bereit sind.
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Im ersten Kapitel der Enzyklika lenkt der Papst den Blick auf eine Welt mit falschen Vorzeichen.

Ein Papst auf Abwegen“, ein „erbitterter Kampf gegen die Marktwirtschaft“, den der Papst fortsetze, so die Breitseiten gegen die Enzyklika „Fratelli tutti“ von Franz Schellhorn in der Kleinen Zeitung. Und sind diese Beschwerden nicht berechtigt, ähnlich wie die Kritik von Wilfried Stadler in der Furche, der von einer Entmutigung der Reformer spricht angesichts „ausnahmslos strikt antimarktwirtschaftlicher Ideologen“, die der Papst in der Abfassung der Enzyklika herangezogen habe? Ihm fehle eine „realistische Würdigung der unbestreitbaren Erfolge hoch entwickelter Sozialstaaten, die in kluge politische Systembedingungen eingebunden sind“. Aber da stellt sich einmal die Frage, ob das überall auf der Welt so ist, und dann, wie der Papst seine Kritik in diesem ersten Kapitel meint.

Dem Papst geht es in erster Linie nicht um eine Kritik an welcher Form der Wirtschaft auch immer. Er möchte die Aufmerksamkeit „auf einige Tendenzen der heutigen Welt lenken, welche die Entwicklung einer Geschwisterlichkeit aller Menschen behindern“ (9). Er lenkt hin auf das, was hinter und in der Wirtschaft an gesellschaftlichen Entwicklungen zu erkennen ist, die die Wirtschaft in welcher Form auch immer von der Erreichung des Zieles der Versorgung aller und des guten Lebens aller abhalten und diese dann pervertieren. Es geht also um Werte bzw. Unwerte, die die Anwendung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Instrumente in einer Form bedingen, die einer geschwisterlichen Gesellschaft entgegenstehen. Diese Werte jenseits von Angebot und Nachfrage spricht der Papst ganz konkret, vielleicht für manche zu deutlich an. Ob der Markt beispielsweise „Ausschuss“ an Menschen produziert, wie der Papst ankreidet, oder ob Digitalisierung zur Oberflächlichkeit, damit zu sozialer Distanzierung und nicht zur sozialen Nähe etwa angesichts der Notwendigkeit von physischem Abstand führt, das hängt davon ab, wie man diese Mittel unter welchen Vorzeichen einsetzt.

So wendet Franziskus sich gegen eine Verwirtschaftlichung, die „Offen sein zur Welt“ nur im Streben nach Profit versteht, er prangert die Ausrichtung auf Konflikte an, die nicht gemeinsame Entwicklung, sondern Entwicklung gegeneinander im Auge haben und Grenzen nicht als Schutz, sondern als Abschottung auffassen. Wenn wir nur auf einige Zwischenüberschriften in diesem ersten Kapitel schauen: „Ohne einen Plan für alle“, „Der Ausschuss der Welt“, „Menschenrechte, die nicht universal genug sind“, „Globalisierung und Fortschritt ohne gemeinsamen Kurs“, „Ohne menschliche Würde an den Grenzen“, „Information ohne Weisheit“, so zeigt sich die Stoßrichtung der Kritik an einer Welt mit falschen Vorzeichen. Nicht dass es nicht auch sehr viel Positives gäbe! Aber in der Veränderung dieser Vorzeichen, an der wir alle mitwirken können, kann es zu einer neuen Einbettung in die Hoffnung kommen, die die letzte Überschrift in diesem ersten Kapitel bildet: „Ich lade zur Hoffnung ein.“ (55) Nehmen wir diese Einladung des Papstes im Bedenken und Verändern der Vorzeichen unserer Gesellschaft an!

Aus der Enzyklika zitiert
12.
„Offen sein zur Welt“ ist ein Ausdruck, den sich die Wirtschaft und die Finanzwelt zu eigen gemacht haben. Er bezieht sich ausschließlich auf die Öffnung gegenüber den ausländischen Interessen oder auf die Freiheit der Wirtschaftsmächte, ohne Hindernisse und Schwierigkeiten in allen Ländern zu investieren.

50.
Wir können gemeinsam die Wahrheit im Dialog suchen, im ruhigen Gespräch oder in der leidenschaftlichen Diskussion. Es ist ein Weg, der Ausdauer braucht und auch vom Schweigen und Leiden geprägt ist. Er ist in der Lage, mit Geduld die umfangreiche Erfahrung der Menschen und Völker zu sammeln. Die erdrückende Fülle von Information, die uns überschwemmt, ist nicht gleichbedeutend mit mehr Weisheit. Die Weisheit wird nicht durch ungeduldige Nachforschungen im Internet hergestellt, noch ist sie eine Summierung von Information, deren Wahrheitsgehalt nicht erwiesen ist. Auf diese Weise reift man nicht in der Begegnung mit der Wahrheit … Das Problem besteht darin, dass ein Weg der Geschwisterlichkeit, im Kleinen wie im Großen, nur von freien Geistern beschritten werden kann, die zu wirklichen Begegnungen bereit sind.

Der Grazer Sozialethiker Dr. Leopold Neuhold analysiert für das Sonntagsblatt die Grundlinien der soeben erschienenen Sozialenzyklika von Papst Franziskus.

Ein Weg der Geschwisterlichkeit, im Kleinen wie im Großen, kann nur von freien Geistern beschritten werden, die zu wirklichen Begegnungen bereit sind. | Foto: Neuhold
Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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