Christentum - Ein Reiseführer | Etappe 016
Die Geschichte des Nicht-Glaubens

Foto: rieger-stockmedien

Entwicklung des Atheismus

Vor diesem Hintergrund wagten zunächst die französischen Materialisten die Prognose, dass Gott für den modernen Menschen bald schon keine Rolle mehr spielen würde (Julien O. de LaMettrie 1709–1751, Denis Diderot 1713–1784).

Einen Schritt weiter gingen die Denker der englischen Aufklärung (David Hume 1711–1776, John Stuart Mill 1806–1873). Sie grenz­ten den Bereich verlässlicher Erkenntnis auf jene Gegenstände ein, die sinnlich erfahrbar waren und mit den Mitteln sogenannter exakter Wissenschaften überprüft werden konnten. Für diesen neuen Erkenntnisweg sprach, dass er zu großen Fortschritten in Naturwissenschaft und Technik führte.

Angesichts dieser Erfolge übersah man, dass mit der methodischen Vorentscheidung des Empirismus das Feld der Wissenschaft auf die Sachverhalte eingeengt wurde, die man durch Zählen, Messen und Wiegen erforschen konnte. Damit hatte man zugleich über die Erkennbarkeit Gottes entschieden. Da Gott nicht empirisch nachweisbar war, erschien es im Rahmen eines empiristischen Zuganges zur Wirklichkeit sinnlos, die Frage nach Gott überhaupt noch zu stellen. Zeitgenössische Autoren wie Richard Dawkins sind Vertreter dieser Position.

Der erste Denker, der die Existenz Gottes nicht nur bestritt, sondern diese Behauptung auch mit Argumenten untermauerte, war Ludwig Feuerbach (1804–1872). Er ging davon aus, dass es sich bei der Gottesvorstellung um ein Produkt des menschlichen Geistes handelt, in dem der Mensch all das, was er für sich selbst wünscht, aber nicht erreichen kann, auf Gott projiziert. Da dies den Menschen aber von sich selbst ablenke und damit entfremde, fordert Feuerbach dazu auf, den Glauben an Gott aufzugeben. Die Position Feuerbachs ging in die von Marx (1818–1883) und Lenin (1870–1924) entworfenen Gesellschaftstheorien ein und gewann von daher eine enorme historische Bedeutung.

 

Die Wurzeln des Atheismus

liegen ausschließlich in der sogenannten westlichen Welt. Sein Aufkommen setzt nicht nur bestimmte geistesgeschichtliche, sondern auch bestimmte gesellschaftliche Faktoren voraus. Dazu zählt die Existenz von geschichtlichen Unrechtszuständen, in denen die Vertreter der Kirche es versäumen, das befreiende Potenzial des Christentums in angemessener Weise einzubringen. Dies erklärt, warum der Atheismus sich in den christlichen Gesellschaften Europas breitmachte, in denen Kirche und Staat in unguter Weise miteinander ver­flochten waren, während er die ebenfalls christlich geprägten Gesellschaften der neuen Welt nicht erreichte. Bezeichnenderweise ist der Atheismus in der Gesellschaft der USA, in der es die beschriebenen ungünstigen Verflechtungen zwischen Kirche und Staat nie gab, stets ein Randphänomen geblieben. Vor diesem Hintergrund gewinnt ein Wort Thomas Manns an Bedeutung, welches vermutet, dass das in Europa zu beobachtende Schweigen über das Heiligste weniger einer ausdrücklichen Ablehnung Gottes entspringe, als vielmehr Ausdruck einer „Gottesscham“ sei, mit der der moderne Mensch auf den Missbrauch des Wortes „Gott“ reagiere.

Problematisch bleiben die gravierenden geschichtlichen Folgen. Mit dem Marxismus-Leninismus sind atheistische Denkhaltungen in hochwirksame politische Theorien eingegangen. In zahlreichen Staaten der Erde wurde der Atheismus dadurch zur staatlich verordneten Ideologie, die die bestehenden religiösen Strukturen gewaltsam unterdrückte und ihre Bürger über Generationen hin daran hinderte, ihren Glauben zu pflegen.

Die auf diese Weise erzwungene Entwöhnung von Religion bewirkte massive Erschütterungen der gelebten Religiosität, von denen die betroffenen Gebiete sich bis heute nicht erholt haben. Besonders dramatisch ist der Abbruch religiöser Traditionen in den neuen Bundesländern Deutschlands sowie in Tschechien, zwei Gebieten, in denen der bei weitem überwiegende Teil der Bevölkerung keiner Glaubensgemeinschaft mehr angehört. Dieses menschheitsgeschichtlich einmalige Phänomen wird mit dem Fachbegriff „Gewohnheitsatheismus“ bezeichnet.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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