Christentum - Ein Reiseführer | Etappe 017
Das Phänomen des Aberglaubens

Gargoyle an der Kathedrale Notre-Dame in Amiens. | Foto: wmc

Glaube und Aberglaube

Die Bezeichnung „Aberglaube“ spricht abwertend über eine als falsch und minderwertig betrachtete Geisteshaltung.
Wer dieses Urteil fällt, geht davon aus, dass es ein Verhalten gibt, das Gott allein angemessen ist, nämlich den wahren Glauben.

Kennzeichnend für den Glauben ist eine Haltung vertrauensvoller Offenheit, mit der der Mensch sich auf Gott ausrichtet. Da Gott dabei als unendlich groß und gütig gedacht wird, gehört zum Glauben wesentlich das Moment der Ehrfurcht; denn so sehr der Mensch eingeladen ist, sich vertrauensvoll auf diesen Gott einzulassen, so sehr muss ihm doch klar sein, dass seine Beziehung zu Gott nicht die zweier gleichrangiger Partner sein kann. Im Falle des Aberglaubens ist die an sich angemessene Scheu vor dem Heiligen so sehr übersteigert, dass es zu einer Fehlform des Glaubens kommt. Diese kann sich in kleinlicher Ängstlichkeit ebenso zeigen wie in überspannter Betriebsamkeit. Mit diesen Haltungen wird der Mensch jedoch weder der verbürgten Güte und Barmherzigkeit Gottes noch seiner eigenen Würde gerecht. Der Aberglaube erweist sich im Blick auf die gebotene Ehrfurcht vor Gott damit als ein problematischer „Über-Glaube“, der anders als der wahre Glaube auf den Menschen nicht befreiend und stabilisierend, sondern im Gegenteil behindernd und verunsichernd wirkt.

Das Phänomen des Aberglaubens wird weithin nicht nur theologisch, sondern auch religionsgeschichtlich betrachtet. In diesem Zusammenhang ist relevant, dass die Religiosität des Menschen eine Entwicklung kennt, die aus früheren Stadien vermuteter Abhängigkeit hinführt zu einer größeren Freiheit in der Gottesbeziehung. Angesichts dessen erscheint das Phänomen des Aberglaubens als Rückfall in eine bereits überwundene Phase der Religions- und Menschheitsgeschichte, in der der Mensch ihm unverständlich bleibende Naturkräfte verehrte, denen er sich ausgeliefert fühlte. Bemerkenswert ist, dass auch bei dieser Betrachtungsweise das Moment der Unfreiheit bestimmend bleibt.

Gegen eine solche unfrei machende Religion traten schon die Philosophen der griechischen Klassik auf. Sokrates (469–399 v. Chr.), Platon (427–347 v. Chr.) und Aristoteles (384–322 v. Chr.) versuchten der Würde des freien Menschen zu dienen, indem sie der mythischen Weltdeutung, in der etwa die Naturkräfte als Gottheiten verehrt wurden, eine logische Erklärung der Welt entgegensetzten. Interessant ist, dass auch die Denker der Antike die Wurzel des Aberglaubens im „erschreckten Staunen“ und damit in der übersteigerten Scheu vor dem Heiligen erkennen. Ihr gegenüber betonen sie, dass zu wahrer Gottesfurcht ruhige Gelassenheit und vernünftige Erkenntnis gehören. Diesem Zeugnis fügt die Bibel das Element des Vertrauens auf die liebende Fürsorge Gottes hinzu, indem sie bezeugt, dass der liebende Gott die Welt geschaffen hat und sie in Jesus Christus, seinem Sohn, zu ihrem Heil führen will.

Im Laufe der Kirchen- und Theologiegeschichte kam es zu bedeutsamen Wandlungen im Verständnis des Aberglaubens. Während er in der Antike und dem frühen Mittelalter vor allem als törichte Illusion angesehen wurde, ging man vom Hochmittelalter an verstärkt davon aus, dass es sich bei ihm um die Kontaktaufnahme mit einer bedrohlichen dämonischen Realität handelt. Diese veränderte Bewertung geht letztlich auf eine Strategie zurück, für die man sich im Zuge der Heidenmission entschieden hatte.

Angesichts der Vitalität, mit der die heidnischen Religionen sich behaupteten, gelang es dem Christentum vielfach nicht, die bestehende Religiosität einfach nur christlich zu überformen. Die Verehrung einzelner heidnischer Gottheiten war so eingewurzelt, dass die Behauptung, diese Gottheit gebe es gar nicht, die Menschen im Missionsgebiet nicht überzeugte. In dieser Situation behalf man sich damit, dass man diese Gottheiten zwar als existent anerkannte, sie aber zu Dämonen umdeutete und ihnen damit eine bleibende Wirksamkeit zuschrieb. Vor diesem Hintergrund erklärt sich sowohl die im Hoch- und Spätmittelalter ausgeprägte Angst vor Teufeln und Dämonen wie auch der Kampf der Kirche gegen eine Verehrung dieser dunklen Mächte. In der frühen Neuzeit erwuchs daraus der Hexenwahn, der sowohl für die katholische wie für die evangelische Kirche eines der dunkelsten Kapitel ihrer Geschichte darstellt.

Eine Gottesbeziehung, wie der Glaube sie darstellt, wird im Aberglauben unter Umständen angezielt, aber verfehlt.
Regina Radlbeck-Ossmann

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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