Einfach Glauben | Teil 02
Das Objektiv am Horizont scharfstellen

Unsere Aufmerksamkeit darf nicht nur die nahe liegenden Dinge beachten. | Foto: Fotolia/Michael Pemberton
  • Unsere Aufmerksamkeit darf nicht nur die nahe liegenden Dinge beachten.
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Die Entwicklung der Menschheit in den letzten zweihundert Jahren ist ein bewundernswertes Abenteuer des Geistes. Das Wissen ist so umfangreich geworden, dass selbst die modernsten Speichermöglichkeiten es kaum zu ordnen vermögen. Als die Ärzte in unserer Klinik eine Lebertransplantation durchführen wollten, entdeckten sie etwas, was sie noch nie gesehen hatten: Der Zugang zur Leber war zerstört. Der behandelnde Professor erzählte mir, dass man um 11.45 Uhr den medizinischen Zent­ralcomputer in Washington angerufen habe, ob es so etwas schon jemals gegeben hätte. In diesen Computer werden täglich bis zu 11.000 wissenschaftliche Arbeiten und Erkenntnisse eingespeichert. Um 11.55 Uhr kam die Antwort, dass dieser Fall unbekannt sei. Daraufhin bauten die Ärzte dem Patienten einen neuen Zugang zur Leber. Die Operation gelang und wurde sofort in Washington eingespeichert, damit man im Wiederholungsfall auf diese medizinische Lösung zurückgreifen könnte.

Rastloser Menschengeist
Das imponiert und steht für tausend andere Dinge, die uns das Leben erleichtert haben. Die Fülle der Daten, die etwa die Biologie und Verhaltensforschung sammeln, ist beeindruckend. Neue Zusammenhänge im Reich des Lebendigen werden entdeckt, die wiederum bilden die Grundlage für mehr Verantwortung gegenüber der Umwelt. Obwohl der Fortschritt nicht gefeit ist gegen Missbrauch aller Art, muss man die Leistungen des rastlosen Menschengeistes bestaunen.
Aber insgeheim wächst ein Unbehagen in der Welt der Wissenschaft. Es geht um den Verlust dessen, was der hohen Schule einst den Namen gab: der Universitas, der umfassenden Ganzheit, des großen Sinnhorizontes. Moderne Forschung muss sich auf das Detail stürzen, auf die noch nicht erfasste dunkle Ecke. Und wenn man dort zu graben beginnt, kommen zehn neue Fragen ans Tageslicht. Einmal in Beschlag genommen, sind dem Menschen keine Auf- und Rundblicke erlaubt.

Ständige Nahaufnahme
Sind wir nicht wie Fotografen, die die Apparate auf ganz nah einstellen und dabei die Horizonte, die Wiesen und Wälder, Berge und Wolken zu Schmutzflecken verschwimmen lassen? Sind wir nicht Tag und Nacht auf Vordergrund manipuliert? Auf das Modische und Nützliche, das Praktische und Verwertbare, das Berechenbare und Angenehme, das Gegenwärtige und Lustvolle? Unsere Aufmerksamkeit wird in einem Ausmaß für das Vordergründige beschlagnahmt, wie das frühere Generationen nie erfahren haben. Mein Großvater war Bergbauer in Südtirol. Er musste in einem Jahr nicht so viele Eindrücke verarbeiten wie ich in einer Woche.
Eine unausrottbare Sehnsucht nach einer sinnvollen Sicht des Ganzen bleibt im Menschen. Jeder Bergsteiger weiß um den Zauber der Weite, der ihm im Gipfelblick geschenkt wird und der das Alltägliche, Kleine und Kleinkarierte relativiert und zurücklässt. Es ist faszinierend und beruhigend, über die Wogen der Landschaft zu schauen bis dorthin, wo der Himmel die Erde berührt.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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