APROPOS Jesus | 60 Fragen - 60 Antworten
32. War Jesus Perfektionist?
„Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!“ (Mt 5,48)
Ein Perfektionist hat Angst. Angst davor, nicht gut genug zu sein oder nicht genug zu bekommen. Ja, vor allem Angst davor, von seiner Umgebung nicht wertgeschätzt zu werden. Sein krankmachender Glaubenssatz lautet: „Liebenswert bin ich nur, wenn ich viel leiste und mir keine Fehler erlaube.“ – War das das Bestreben Jesu? Ging es ihm darum, sich verbissen selbst zu verbessern und sich unter großem Leidensdruck zu Höchstleistungen zu „pushen“? War ihm ein perfektes Image wichtig?
Nein. Jesu Aufruf zur Vollkommenheit, wie sie uns in der Bergpredigt überliefert ist – „Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!“ (Mt 5,48) – hat anderes im Sinn. Aber was? – Aus dem Zusammenhang wird klar, dass es um ein reifes, nachsichtiges und verständnisvolles Verhalten auch gegenüber feindlich gesinnten Mitmenschen geht. In der Parallelstelle im Lukasevangelium, in der Jesus von der Feindesliebe spricht, findet sich derselbe Aufruf. Allerdings wird hier anstelle von „vollkommen“ das Wort „barmherzig“ verwendet: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ (Lk 6,36)
Barmherzigkeit ist eine Wesenseigenschaft Gottes und beschreibt sein Mitgefühl und seine Fürsorge. Diese Haltung ist Jesus wichtiger als sein gesellschaftlicher Ruf und selbst die religiöse Pflichterfüllung: „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer!“ (Mt 9,13; 12,7; Hos 6,6) Es ist ihm egal, wenn er von Pharisäern für das gemeinsame Mahl mit Zöllnern und Sündern (vgl. Mt 9,10–13) oder das Übertreten der Sabbatregeln gerügt wird. Ein Perfektionist hätte eine solche Missbilligung vonseiten einer öffentlichen Autorität bestimmt nicht riskiert.
„Image is everything“? – Für Jesus nicht. Es geht ihm um seine Berufung und nicht die Bestätigung von außen. Sein Handeln war nicht angstgeleitet, sondern getragen von starkem Gott- und Selbstvertrauen. Er ging sogar so weit, dass er für seine Botschaft den Kreuzestod hinnahm. Scheinbar ein Misserfolg. Aber nur scheinbar. Im Johannesevangelium ist sein letztes Wort vorm Sterben: „Es ist vollbracht!“ (Joh 19,30)
Irene Maria Unger
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.