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Aus dem Gleichgewicht

Warum gibt es zeitgleich viele offene Stellen und viele (langzeit)arbeitslose Menschen? Welche unterschiedlichen Faktoren das Zusammenfinden von Mensch und Arbeit erschweren, ergründen Renate Eder vom AMS und Heike Hillebrand von der Caritas.

Arbeit macht das Leben süß
… oder bitter? Das kommt wohl ganz auf die Arbeit an. Nach dem Psychologen Hilarion Petzold ist Arbeit eine der fünf Säulen der menschlichen Identität. Fällt eine Säule weg, z. B. durch Arbeitslosigkeit, können wir aus dem Gleichgewicht geraten. Anfang Mai waren 27.907 SteirerInnen beim AMS arbeitslos gemeldet, 9403 davon als langzeitarbeitslos. Offene Stellen standen 18.877 zur sofortigen Verfügung. Wie Mensch und Arbeit (nicht) zusammenkommen, erklärt Renate Eder vom AMS. Womit Menschen am Arbeitsmarkt kämpfen, beschreibt Heike Hillebrand, Caritas-BEX und Betreuerin der Einzelfallhilfen des Fonds für Arbeit und Bildung.

Damit ArbeitgeberIn und ArbeitnehmerIn zusammenfinden, müssen viele Faktoren stimmen.

Renate Eder

leitet das Service für Unternehmen im AMS Graz-Ost.

Wir verbinden Mensch und Arbeit – das ist unser Leitspruch beim Arbeitsmarktservice. Das unterteilt sich in zwei große Bereiche: die Betreuung von Personen, die sich arbeitslos melden, und die Betreuung von Unternehmen, die MitarbeiterInnen suchen. Mein Arbeitsbereich liegt direkt bei den Unternehmen. Ein Beispiel unserer Arbeit: Wir bekommen eine Stellenausschreibung von Firma XY. Die gleichen wir dann mit unserem Pool von arbeitssuchend vorgemerkten Personen ab. Dabei werden viele Kriterien abgewogen: Passt die Qualifikation, die Ausbildung? Passen Dienstort und Wohnort? Braucht man einen Führerschein, bzw. ist einer vorhanden? Ist die Arbeitsstelle mit etwaigen Betreuungspflichten vereinbar? Und so weiter. Wir „matchen“ also die Stelle mit BewerberInnen. Ein bisschen wie bei einer Datingplattform.

Zufriedenheit am Arbeitsplatz ist wichtig
Einer bestens ausgebildeten Näherin hilft es aber nichts, wenn ich keine Stelle als Näherin, dafür aber 37 IT-Stellen habe. Manchmal kann es sein, dass sich die Näherin umorientiert. Das unterstützen wir mit Schulungen und Kursen. Aber nicht jede/n kann man zu allem umschulen.
Damit ArbeitgeberIn und ArbeitnehmerIn schlussendlich wirklich zusammenfinden, müssen viele Faktoren stimmen. Auch die Chemie. Wir beim AMS beobachten, dass Menschen ihre Arbeitsstellen bewusster aussuchen. Work-Life-Balance und Zufriedenheit am Arbeitsplatz sind ein großes Thema. Das vermitteln wir auch den Unternehmen und informieren darüber, was sie anbieten können, um für ArbeitnehmerInnen attraktiv zu sein.

Arbeit ist nicht nur Gelderwerb, sondern gibt auch ein Selbstwertgefühl.

Heike Hillebrand

ist Sozial- und Berufspädagogin und zuständig für Arbeitsberatung bei der Caritas-Beratungsstelle für Existenzsicherung (BEX).

Unsere Arbeitsberatung ist ein zusätzliches, kostenloses und freiwilliges Angebot der Caritas-BEX. Niemand wird verpflichtend zu uns geschickt. Die Menschen, die kommen, wollen ihre Situation verändern. Arbeit ist für viele mehr als nur Gelderwerb. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Das eigene Selbstwertgefühl und der Platz in der Gesellschaft hängen an der Arbeit. Außerdem gibt Arbeit dem Leben Struktur, im besten Fall auch Sinn und Halt und ganz wichtig: soziale Kontakte. Durch den Verlust der Arbeit wird das Einkommen geringer und die Sorgen größer: Wie lange kann ich mir mein Leben noch leisten? Kann ich noch mit FreundInnen auf einen Kaffee gehen? Kann ich meinem Kind den Schulausflug oder die neuen Schuhe noch bezahlen? Unvorhersehbare Ausgaben, wie eine neue Waschmaschine, sind gar nicht möglich.

Viele Hürden auf dem Weg
Dass Menschen keine stabile Anstellung finden, liegt an vielen Faktoren: geringe Qualifizierung; keine abgeschlossene Berufsausbildung; Berufseinsteiger, die nicht gleich ihren Platz in der Arbeitswelt finden, keine Rückmeldungen auf Bewerbungen bekommen, Termine oder Fristen versäumen und nach einiger Zeit verunsichert aufgeben; gesundheitliche Probleme, z. B. Rückenprobleme durch lange berufliche Tätigkeit; Kinderbetreuungszeiten u. v. m. Die Arbeitswelt hat sich sehr verändert. Die Anforderungen sind gestiegen. Besonders die Digitalisierung ist für viele eine Hürde: Bewerbungen, sogar für Hilfsjobs, müssen online eingereicht werden. Zu uns kommen auch Menschen, die keinen PC haben und noch nie E-Mails verschickt haben.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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