Mutworte - Elisabeth Rathgeb
Wurzelwunder

Foto: Birgit Pichler

Ich hasse Erdholler, auch bekannt als Giersch oder Hirschlaub. Tagelang habe ich versucht, das Staudenbeet zurückzuerobern, das er überwuchert hat: Seine Triebe wachsen ungeniert durch die Pfingstrosenwurzeln, sie bringen die Herbstanemonen und die Kugeldisteln in Bedrängnis und vertreiben den Phlox. Respektlos, hartnäckig und ausufernd in alle Richtungen. Sogar meine Barrieren aus Randsteinen und Lärchenbrettern hat er unterwandert, um frisch-fröhlich in den Dahlien aufzutauchen.

Wohlmeinende Bekannte raten mir, ihn doch zu verspeisen: Gekocht wie Spinat sei er hervorragend. Aber ich will ihn loshaben. So versuche ich, die Wurzeln möglichst gründlich auszureißen – wohlwissend, dass jedes einzelne kleine Stückchen, das im Boden bleibt, wieder austreibt. Eine Sisyphos-Arbeit! Ich grabe und folge mit detektivischem Spürsinn jeder Wurzel und staune, welche Zahl an Ausläufern zutage kommt. Und ich gestehe: Ich staune nicht nur, ich fluche auch.

Leider hilft Verfluchen nicht. Erdholler-Giersch-Hirschlaub sind immer noch da. Und so ringt mir das Gewächs mit der Zeit widerwillig Bewunderung ab: je länger, desto mehr. Solche Wurzeln müsste man haben! So ein Netzwerk! So eine unbändige Kraft! Und unweigerlich denke ich über meine eigenen Wurzeln nach ...

Im Brief des Apostels Paulus geht es zwar nicht um den Erdholler, aber auch um die Frage nach den Wurzeln. Paulus gibt zu bedenken: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“ (Röm 11,18).

Aus: Elisabeth Rathgeb: Kopfsalat mit Herz. Eine spirituelle Entdeckungsreise durch den Garten. Verlag Tyrolia. Die Autorin ist Caritas-Direktorin in Tirol.

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SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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