Positionen - Christian Teissl
Wann wird es Mai?
„markierung einer wende“, so heißt ein Gedicht von Ernst Jandl. Im Rahmen einer Zeitungskolumne kann man es nicht zitieren, nur versuchen, es zu beschreiben. Seine Worte wollen nicht gelesen, sie wollen betrachtet werden; ein Stück visueller Poesie, besteht es nicht aus zwei Strophen, sondern aus zwei Spalten. In der linken Spalte steht unter der Jahreszahl 1944 zwölfmal kleingeschrieben das Wort „krieg“, in der rechten steht obenan die Jahreszahl 1945 und darunter viermal „krieg“, das fünfte und letzte Wort aber lautet schlicht und einfach –: „mai“. Selten wurde die große, befreiende Wende vom Krieg zum Frieden sinnfälliger ins Bild gebracht.
Im Mai 1945 war Ernst Jandl, der Verfasser dieses Gedichts, zwanzig Jahre alt und bereits ein Überlebender. Was Krieg bedeutet, hat seine Generation noch am eigenen Leibe erfahren …
Heute, ein Menschenalter später, herrscht wieder Krieg, in der Ukraine und im Nahen Osten. Verhärtet die Fronten, alle Rufe nach Frieden verhallen, eine Schreckensmeldung folgt der andern, es regiert die Logik der Eskalation. Unterdessen ist es hierzulande Mai geworden wie jedes Jahr. Wann aber wird es für die Menschen in den Kriegsgebieten endlich wieder Mai?
Christian Teissl
teissl@mur.at
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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