Positionen - Ernest Theußl
So viele Züge gehen
Ich bin steter – und oft auch leidgeprüfter – Zugfahrer. Beim Einsteigen schon die bange Frage: Habe ich den richtigen Zug, werde ich einen Platz finden, und wird er wohl pünktlich ankommen, damit ich den Anschluss nicht verpasse? Die Anzeigetafel – ein Erlebnis von Weite und Ferne: Zürich, München, Wien und Prag. Du brauchst nur einzusteigen, am Abend bist du dort.
Wie oft drängen sich mir Gilbert Bécauds berühmte Worte ins Bewusstsein: So viele Züge geh’n, wer weiß, wohin! Und dann die verästelten Geleise, die hektischen Leute, die nüchternen Durchsagen über Ein- und Abfahrten, über Pannen, Verspätungen und Cancelling. Manchmal könnte mich ein kalter Schauer beschleichen: Ist das nicht mit unserem Leben auch so? Es gehen so viele Züge, oft in gegensätzliche Richtungen, und manchmal die beängstigende Sorge: Sind wir überhaupt im richtigen drin, oder fahren wir bloß? Wissen wir noch, wohin die Reise geht, haben wir ein Ziel?
Wir Menschen sehnen uns in unserer Daseinsbewältigung nach einer Antwort auf das Woher und das Wohin. Und dieses Sehnen streckt sich weit über unsere erfahrbare Wirklichkeit hinaus, die wir wohl ahnen, aber oft nicht mehr zu benennen wissen. Thomas von Aquin, der große Theologe der Scholastik, hat es so benannt: Finis omnium desideriorum – das Ziel all unserer Sehnsüchte, das wir Gott nennen. Oder wie wir in einem zeitgenössischen Lied singen: Am Ende dieses Weges bist du selber dann das Ziel. Und ich füge hinzu; Nicht erst am Ende, immer schon!
Ernest Theußl
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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