Mutworte - Christa Carina Kokol
Mit und ohne Pferdeohren

Foto: Neuhold

Es war einmal ein König, dem große Achtung erwiesen wurde. Eines Tages wuchsen dem Herrscher Pferdeohren. Um sie vor der Welt zu verbergen, trug er einen goldenen Helm. Dennoch bemerkte einer seiner Leute diesen Makel. Obwohl er keinem davon erzählen durfte, wussten bald ein Zweiter, ein Dritter und auch ein Vierter von dem Geheimnis. Der Machterhalt des Königs war in Gefahr. So beschloss der Herrscher die vier Mitwissenden brutal zu beseitigen. Bevor er jedoch den Befehl gab, fragte er sich nach der Sinnhaftigkeit seines Tuns. Und er kam zur Einsicht, dass er trotz eigener Befindlichkeit das Bestmögliche für alle Beteiligten tun konnte. Er nahm seinen goldenen Helm ab und zeigte sich mit Pferdeohren dem Volk: „Um meine Macht zu sichern, hätte ich an vier Menschen bitteres Unrecht getan. Da will ich lieber darauf verzichten.“ Doch die Leute riefen: „Du sollst auch mit Pferdeohren unser König bleiben! Jetzt wissen wir, dass du das Leben der Menschen nicht für deine Herrschaft opferst. Unser König war tot – jetzt lebt er wieder!“

In diktatorischen Systemen könnte auch diese Geschichte der Zensur zum Opfer fallen. Eine Geschichte, die von einem nachweisbaren Willen zum Sinn erzählt. Ob der Mensch trotz mancher „Pferdeohren“ auf den Sinnanruf, der gerade an ihn gerichtet ist, antwortet, liegt in seiner Macht. Und wenn ich als Mensch fähig bin, Sinnvolles zu erkennen, muss es auch einen letzten Sinn geben, jenseits der „tragischen Trias“ von Leid, Schuld und Tod.

Christa Carina Kokol
ist dipl. psychotherapeutische Beraterin in Logotherapie und Existenzanalyse nach Viktor E. Frankl.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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