Mutworte - Ruth Zenkert
Die bittere Frucht

Foto: privat

Es war die letzte Chance für Andrei. Wir hatten eine Wohngemeinschaft ins Leben gerufen und wollten den zukünftigen Bewohnern ein Sprungbrett in die Eigenständigkeit mit möglichst viel Freiheit ermöglichen. Ein paar Bedingungen gab es: Schule, Studium oder Arbeit. Ein Pädagoge kam wöchentlich zu den Jugendlichen. Die jungen Leute wuchsen zusammen und wurden Freunde. Hier sollte Andrei seinen Platz finden, damit er endlich die letzte Prüfung für sein Maturazeugnis ablegte. Ich hoffte, dass die WG ihn motivieren würde.

Ein Leben lang im Heim mit strengen Regeln, davon hatte er mehr als genug. Er wehrte sich gegen alle und alles. Alkohol, Drogen, nächtelang unterwegs sein, darin glaubte er sein Glück zu finden. Jeder Versuch einer Zuwendung ging Andrei auf die Nerven. Er wollte keine Einschränkungen, schimpfte gegen Gott und die Welt, Politik und Systeme, gegen alles.

Da boten uns Freunde an, dass wir Praktikanten für ein Jahr in ein Jugendhaus nach München schicken könnten. Andrei bewarb sich. Er müsse raus aus dem „Gefängnis“ und brauche endlich seine Freiheit. Die Enttäuschungen waren bitter, doch im Abschied erkannte ich seine Stärke. Wie der frische Ölzweig – er ist bitter –, den die Taube zu Noah in die Arche brachte, war der Aufbruch des Jungen. Als Andrei die Prüfung bestand und dann sogar einen Studienplatz für Medizin erhielt, verstand ich das rabbinische Wort: „Besser ist bittere Frucht, die von Gott kommt, als die süßeste Speise aus den Händen des Menschen.“

Ruth Zenkert
ist Mitarbeiterin der von P. Georg Sporschill, SJ., gegründeten sozialen Werke in Rumänien.Aus: elijah.ro/bimail

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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