Positionen - Leopold Neuhold
Der Zaun

Ein Löwe wurde gefangen und in ein Löwengehege gebracht. Dort traf er viele andere Löwen an. Manche waren schon lange hier, etliche schon im Gehege geboren worden. Beim Herumgehen lernte er verschiedene Gruppen von Löwen kennen. Die einen waren religiös, sie sangen Lieder von Erlösung, von einem künftigen Lebensraum ohne Zäune. Andere erinnerten an Zeiten, als es noch keine Zäune gegeben hatte. Manche schlossen sich zu revolutionären Gruppen zusammen, die andere bekämpften, um sich selbst zu befreien, wieder andere wandten sich gegen die Wärter.

Da bemerkte der Neuangekommene einen Löwen, der in Gedanken versunken umherging. Er gehörte keiner Gruppe an. Bei manchen rief dieser Löwe Bewunderung hervor, bei anderen Angst und Selbstzweifel. Dieser Löwe warnte den Neuen davor, sich einer Gruppe anzuschließen, diese würden sich um alles kümmern, nur nicht ums Wesentliche. Gefragt, was dieses Wesentliche sei, antwortete der seltsame Löwe: „Über die Art des Zaunes nachzudenken.“

Ja, es ist wesentlich, über den Zaun nachzudenken, der uns vom Leben in Fülle fernhält. Wir legen oft sehr viel Wert auf die Gestaltung des Lebens innerhalb des Zaunes mit all den Beengungen, die sich hier finden. Darüber vergessen wir, über die Art des Zaunes nachzudenken, und vor allem darauf, dass der Auferstandene diesen Zaun entfernt und zum wahren Leben führt. Wir verdrängen die Auferstehung, um mit dem Gegebenen zufrieden sein zu können. Dabei versuchen wir, das leere Grab zu gestalten, und halten uns vom Garten entfernt, in dem Maria dem Auferstandenen begegnet.

Leopold Neuhold

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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