Interview
Versöhnung beginnt mit Mitgefühl
Ruanda. Kardinal Antoine Kambanda erzählt von seinen Erfahrungen mit dem Genozid 1994 und was die Kirche zu Versöhnung beitragen kann.
Erzbischof Antoine Kambanda ist 1958 in Ruanda geboren, aber mit seiner Familie, die im Bürgerkrieg nach Kenia geflüchtet war, dort aufgewachsen. Für das Studium kehrte er wieder in seine Heimat zurück. Den Völkermord in Ruanda, bei dem 1994 innerhalb weniger Monate fast eine Million Menschen grausam ermordet wurde, überlebte er, weil er in dieser Zeit zum Studium in Rom war. Seine Eltern und fünf seiner sechs Geschwister wurden im Genozid ermordet. 2018 wurde er Erzbischof von Kigali, der Hauptstadt Ruandas, 2020 wurde er zum ersten Kardinal Ruandas ernannt.
Alois Kölbl: Vor dreißig Jahren hat sich in Ruanda ein Genozid von unvorstellbarer Grausamkeit ereignet. Welche Erinnerungen haben Sie persönlich an diese Zeit? Wie erklären Sie sich, dass so viel an Grausamkeit zwischen Menschen, die einander kannten, möglich war?
Kardinal Kambanda: Das war eine unglaublich schockierende Erfahrung. Letztlich ist dieses unvorstellbare Blutbad auch nicht erklärbar. Zunächst klingt es aus heutiger Sicht einfach nur verrückt und unglaublich, dass Menschen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit ermordet wurden. Am Anfang stand politische Manipulation. Denn es entsprach ja gar nicht der Wahrheit, dass es sich um verschiedene ethnische Gruppen handelte. In Ruanda gab und gibt es nur eine ethnische Gruppe. Denn eine ethnische Gruppe hat eine eigene Sprache, eine eigene Kultur, eine eigene Geschichte oder ein eigenes Territorium. Aber Hutu und Tutsi unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihrer Sprache oder ihrer Kultur, auch das Land haben sie immer gemeinsam bewohnt.
Der Unterschied wurde von den Kolonisatoren gemacht. Die Hutus waren großteils Ackerbauern und die Tutsis hauptsächlich Viehzüchter. 1933, als die Belgier das Land von den Deutschen übernahmen, und Ruanda und Burundi dem Kongo hinzufügten, entschieden sie einfach, dass eine Person, die weniger als zehn Kühe besitzt, ein Hutu und Personen mit mehr als zehn Kühen Tutsis sind. So wurden sogar Familien geteilt und Brüder verschiedenen Stämmen zugeordnet. Und natürlich gab es auch gemischte Ehen. Die ethnische Zugehörigkeit hing in der Folge allein vom Vater ab, eine Mutter konnte auch Kinder mit verschiedener ethnischer Zugehörigkeit haben. Da gab es auch sehr tragische Fälle, die lang andauernde Traumata hervorriefen. Denn im Genozid haben sich nicht nur Nachbarn, sondern auch Verwandte, ja sogar Brüder getötet. Auch in der Kirche gab es Täter und Opfer. Es gab Gläubige, die aufgrund ihrer Glaubensüberzeugungen Menschen das Leben retteten und nicht wenige, die sterben mussten, weil sie versucht haben, anderen zu helfen.Am Anfang stand politische Manipulation.
Sie und Ihre Familie waren auch direkt vom Genozid betroffen. Sie haben viele nahe Verwandte verloren. Wie gehen Sie persönlich damit um? Wie waren Ihre Gefühle gegenüber den Mördern?
Kardinal Kambanda: Es war ein wahnsinnig großer Schmerz, fast die gesamten Familienangehörigen zu verlieren. Aber meine Geschichte war nicht die einzige und auch nicht die schlimmste. Da gab es unvorstellbar schlimme Ereignisse. Zum Beispiel Kinder, deren Eltern ermordet wurden, als sie noch Babies waren und denen man nicht einmal sagen konnte, wer ihr Vater oder ihre Mutter ist, weil man nicht wusste, zu welcher Familie sie gehörten. Wenn man für sich selber wahrnimmt, dass die eigene Geschichte nicht die schlimmste ist und es andere gibt, die viel mehr Betreuung brauchen, dann erleichtert das auch letztlich die eigene Tragödie. Das heilt und hilft auch irgendwie. Das ist irgendwie so wie Anästhesie bei einer sehr schmerzhaften Operation.
Wir haben auch unglaubliche Versöhnungsgeschichten gehört. Was tut die Kirche, um Versöhnung zu ermöglichen?
Kardinal Kambanda: So wie die Tragödie des Genozids nicht verstehbar ist, so ist auch die Gnade der Versöhnung nicht mit rationaler Vernunft verstehbar. Das kann man nur unter dem Blickwinkel der Gnade Gottes betrachten. (…) Es spielt auch eine große Rolle, dass vor der Trennung in Hutu und Tutsi durch die Kolonisatoren die Menschen sich hier in Ruanda als ein Volk verstanden. Gleich nach dem Genozid ging es zunächst nur darum, den Toten ein würdiges Begräbnis und den Angehörigen die Möglichkeit zur Verabschiedung zu geben. Damit geschah auch schon ein erster Schritt von Versöhnung. Und dann ging es natürlich auch darum, den Menschen – vor allem den vielen Witwen – auch materielle Unterstützung für Unterkunft und medizinische Versorgung zukommen zu lassen. Die Caritas hat da sehr viel getan. (…)
Darüber hinaus gab es Storytelling-Projekte, wo Menschen ihre Leidensgeschichte
erzählen konnten und die anderen zuhörten. Durch die Erfahrung von Mitleid und Anteilnahme wurde auch die Tür für Vergebung und Versöhnung geöffnet. Es gibt einen Grundsatz in Ruanda, dass Versöhnung damit beginnt, dass man mit dem anderen mitfühlen lernt. Nur durch geduldiges Zuhören und Demut kann man diesen Weg gehen, und letztlich ist es der Blick auf Jesus Christus am Kreuz, der Vergebung schenken kann.
In der ruandischen Hauptstadt Kigali gibt es Pläne, die neue Kathedrale über einem früheren Gefängnis zu bauen, in dem nach dem Genozid viele Menschen ihre Strafe verbüßten. Wie ist dieser Plan entstanden?
Unsere Diözese ist sehr jung, sie besteht erst seit 1976 und hat eigentlich keine richtige Kathedrale. Als Kigali Hauptstadt Ruandas wurde, gründete man hier eine Erzdiözese und machte eine Pfarrkirche im Stadtzentrum zur Bischofskirche. Als ich Erzbischof wurde, nahm ich mir vor, eine Kathedrale zu bauen, da sich das Land nun erfreulicherweise in einer stabilen Situation befindet. In den Stadtentwicklungsplänen der rasch wachsenden Stadt war allerdings kein Platz für eine Kathedrale vorgesehen. So fragten wir bei der Regierung diesbezüglich nach. Schließlich kamen wir auf dieses Areal des ehemaligen Gefängnisses. Es gehört zur Geschichte unserer Stadt, dass das älteste große und befestigte Gebäude ein Gefängnis ist. Es stammt aus der Kolonialzeit. Der deutsche Arzt und Forscher Dr. Richard Kandt hatte hier im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts zunächst auf einem damals noch unbewohnten Hügel als Vertreter des deutschen Kaisers eine Residenz gebaut. 1930 bauten dann die belgischen Kolonialherren auf demselben Hügel das Nyarugenge-Gefängnis, das bis 2018 in Betrieb war. Für mich ist es sehr stimmig, dass über der ehemaligen Strafvollzugsanstalt mit der Kirche ein Gebäude des Heils, der Rettung und Versöhnung erbaut werden soll. Es ist fast so wie das biblische Golgotha vom Platz der Verdammnis zum Platz des Heiles geworden ist. Im Blick auf diese Symbolik sehe ich auch den Kirchenbau, unter dem die Mauern des früheren Gefängnisses sichtbar bleiben sollen.
Als Kardinal sind Sie auch Mitglied der Bildungskongregation des Vatikans. Sehen Sie diesbezüglich einen spezifischen Beitrag Afrikas zur Weltkirche?
2019 hat Papst Franziskus einen Globalen Bildungspakt angeregt, und in den letzten Jahren haben wir einen afrikanischen Bildungspakt erarbeitet, als erste kontinentale Umsetzung dieser Initiative des Papstes. Papst Franziskus hat besonders dazu aufgefordert, auf die Stimmen und Ideen der Jugend zu hören. Willkommenskultur und Solidarität sind Werte, denen wir uns in Afrika besonders verpflichtet fühlen. Das ist auch in diesen Pakt eingeflossen.
Letztes Jahr im Juni haben wir ihn in Rom präsentiert und Papst Franziskus hat uns damals gesagt, dass er zu diesem globalen Pakt von einem afrikanischen Sprichwort inspiriert worden ist: „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“
Dieses bekannte Sprichwort, das davon ausgeht, dass der elterliche Einfluss nicht ausreicht, dass sich ein Kind zu einem zufriedenen und sozial kompetenten Wesen entwickeln kann, ist auch ein Leitgedanke unseres afrikanischen Bildungspaktes.
In Ruanda haben wir noch einmal einen besonderen Akzent auf die gegenseitige Akzeptanz trotz aller Unterschiede gesetzt. Da fließt auch die schmerzvolle Geschichte unseres Landes ein. Franziskus wies uns damals auch noch auf ein anderes Sprichwort hin: „Wenn du tiefe Wurzeln hast, brauchst du den Wind nicht zu fürchten.“ Er ermutigte uns, den christlichen Glauben und die traditionelle Kultur dialogisch zu verbinden.
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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