Kulturzentrum Minoriten
Neu erden - über den Sinn alter Mythen
Im KULTUM sprach Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme über Ovid und den heutigen Sinn alter Mythen.
Das Meer ist „der Urgrund der Beängstigung“ und eine jahrtausendealte „Quelle der Angst“ – sowohl in der Bibel als auch in antiken Schöpfungsgeschichten. Das sagte der Kulturtheoretiker und Literaturwissenschaftler Hartmut Böhme bei seiner Neu-Interpretation von Ovids Sintflut-Erzählung in den „Metamorphosen“ im KULTUM. Eine neue Diskursreihe greift alte Katastrophentexte auf und deutet sie im Licht unser aktuellen Krisenzeit neu aus, mischt sie quasi neu.
Während „die Natur keine Katastrophen kennt“, so Böhme, mache das bewusste Nachdenken des Menschen über dramatische Erlebnisse und die eigene Sterblichkeit eine „Katastrophe“ erst zu einer solchen: „Wer sind wir?“ „Wie stehen wir in der Welt?“ Die Erde sei eine winzige Nische im All und wir Menschen flüchtige – und gefährliche – Wesen. Erlangten wir ein derartiges Bewusstsein nicht und bewahrten wir die „Empfindlichkeit gegenüber allem Lebendigem auf diesem Stern unter hauptsächlich toten Sternen“ nicht, so der Vortragende, „dann ist es um uns geschehen“. Dass es Böhme nicht um professorale Bedächtigkeit, sondern um solide Handlungsorientierung geht, zeigt sein klarer Aufruf zum Handeln: Die menschengemachte Zerstörung der Erde sei weit fortgeschritten, nun gelte es, Hand anzulegen: Neben der Hinwendung zu sanfter Landwirtschaft „müssen wir zu Geomorphologen werden“, ergänzte der Vortragende und plädierte gleichzeitig für einen „recht verstandenen Anthropozentrismus, […] der andere Lebewesen genauso ernst nimmt wie uns selber“.
In unserer ökologischen Wendezeit lohne die Relecture von Ovid’schen Katastrophenerzählungen, so Böhme. Denn der antike Poet „macht uns nicht zu Engeln“ oder modelliere uns zum über alle anderen Wesen triumphierenden „Ebenbild Gottes“, sondern er schreibe in uns „Erdgeborene“ die widersprüchlichen Eigenschaften verschiedener Götter realistisch ein: „Empathie, Liebe und Zärtlichkeit sind nicht unser Charakter in toto“, so Böhme. So sprach er sich für das Überwinden des triumphalistischen „Macht euch die Erde untertan“-Motivs zugunsten der Lesart „Macht euch zu Hegern und Pflegern“ aus.
Durch (selbst-)gemachte Katastrophen zurückgeworfen in die chaotische „Urflut“, könne der Mensch sich aber neu „erden“ und auf seine Kreativität vertrauen. Um etwa die Klimakrise zu lösen, brauche es einen breiten Prozess unter Einschluss der Künste. Es gelte – wie es Ovid in seinem Text tat –, Unterscheidungen zu treffen, damit wir als Gesellschaft „unsere kollektive Navigationsfähigkeit“ bewahren könnten.
Florian Traussnig
Zur Person
Hartmut Böhme
Literaturwissenschaftler, Kulturtheoretiker, geboren 1944 in Beeskow/Deutschland. Studium der Germanistik, der Philosophie, der evangelischen Theologie und Pädagogik, Tätigkeit als Lehramtsreferendar, ab 1993 Professor für Kulturwissenschaft, Lehrstuhl Kulturtheorie und Mentalitätsgeschichte an der Humboldt-Universität in Berlin, heute emeritiert. Böhmes Forschungsschwerpunkte sind historische Anthropologie und Psychohistorie, Kulturgeschichte seit der Antike, Kulturtheorie und Literaturgeschichte vom 18. bis zum 20. Jh. Am 22. Juni war Böhme im Rahmen der KULTUM-Reihe „NEU GELESEN. NEU ERZÄHLT. NEU GEMISCHT.“ in Graz.
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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