Interview
Von der Absicht, das Herz des Anderen zu erreichen

Die Kunst zu lieben heißt für Margaret Karram wie Jesus zu lieben. Geboren in Palästina, ist die studierte Judaistin seit kurzem neue Präsidentin der Fokolar-Bewegung, der sich auch in Österreich viele Menschen zugehörig fühlen. | Foto: CSC-UFFICIO COMUNICAZIONE FOCOLARE
  • Die Kunst zu lieben heißt für Margaret Karram wie Jesus zu lieben. Geboren in Palästina, ist die studierte Judaistin seit kurzem neue Präsidentin der Fokolar-Bewegung, der sich auch in Österreich viele Menschen zugehörig fühlen.
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Seit 1. Februar ist Margaret Karram (58) Präsidentin der Fokolarbewegung. Im Interview spricht die Palästinenserin und studierte Judaistin über ihre Erfahrungen im interreligiösen Dialog und was sie das Evangelium lehrt.

Sie stammen aus Israel, einem Staat, in dem Menschen der drei abrahamitischen Religionen zusammenleben. Die Christen werden im Konflikt zwischen Juden und Muslimen aufgerieben. Wie macht sich die Situation im alltäglichen Leben des Einzelnen bemerkbar?

Margaret Karram: Es ist nicht zu leugnen, dass die Situation im Heiligen Land ausgesprochen komplex ist: Politische, wirtschaftliche und sozio-kulturelle Aspekte sind hier eng miteinander verflochten, und es gibt einen starken Einfluss von geostrategischen Interessen. Gewiss spielen auch religiöse Elemente eine Rolle, aber leider wird die Religion – wie auch in vielen anderen Konflikten – oft dazu missbraucht, die eigentlichen Motive zu verschleiern.
Außerdem muss man festhalten, dass sich die Lage ganz unterschiedlich präsentiert, je nach der Region, in der man lebt. Ich bin beispielsweise in Haifa in Galiläa aufgewachsen, einer Stadt mit viel Erfahrung im Zusammenleben und im toleranten Umgang mit verschiedenen Traditionen und religiösen Überzeugungen. Später habe ich viele Jahre in Jerusalem gelebt und gearbeitet, wo man viel stärker die Spannungen dieser ganz einzigartigen Stadt wahrnimmt: einer Stadt, die von drei Religionen beansprucht wird. Eben diese beiden so verschiedenen persönlichen Erfahrungen sind für mich Grund zur Hoffnung für die Zukunft. Denn sie zeigen mir: Es hängt nur von uns ab, ob wir als Personen in der Lage sind, neue Beziehungen zu knüpfen auf der Basis von Respekt, Geduld und dem Bewusstsein, dass wir immer nur uns selbst ändern können, anstatt zu erwarten, dass die anderen sich ändern. Was die Sorge betrifft, die Christen könnten im Konflikt zwischen Juden und Muslimen aufgerieben werden, so möchte ich auf eine Aussage des Lateinischen Patriarchen von Jerusalem, Pierbattista Pizzaballa, verweisen. Als er noch Kustos im Heiligen Land war, hat er 2007 in einem Interview auf die historische Aufgabe der Christen im Heiligen Land hingewiesen und davor gewarnt, aus der Tatsache, eine Minderheit zu sein, die Furcht vor dem Verschwinden zu entwickeln. „Unsere größte Herausforderung“, so Pizzaballa damals, „besteht darin, uns nicht darauf zu beschränken, die schwierige Situation, in der wir leben, zu ertragen, sondern uns aktiv und kritisch einzubringen, verankert in und beseelt von der Hoffnung des Evangeliums.“

Weshalb hat Sie gerade das Charisma der Gründerin Chiara Lubich so angezogen? Wie spürten Sie den Ruf zur Nachfolge Jesu?
Von klein auf habe ich die Trennung zwischen den Personengruppen und die Entfremdung zwischen den Völkern deutlich wahrgenommen. Und ich habe mich immer wieder gefragt, was das alles für einen Sinn hat. Mit zunehmendem Alter verspürte ich den Wunsch, etwas zu unternehmen, um die Situation zu verändern. In derselben Zeit wurde immer klarer, dass die Aufforderung Jesu, für die Einheit zu leben, die mir durch das Charisma von Chiara Lubich nähergebracht wurde, der geeignete Weg war, um neue Beziehungen zwischen den Menschen aufzubauen, Beziehungen von Geschwistern, die alle Kinder des einen Vaters sind.

Deshalb habe ich den Wunsch verspürt, Jesus nachzufolgen und ihm für immer mein Ja zu sagen, indem ich zugleich ganz bei den Menschen bleibe und ihre Freuden und Leiden teile. Und ich habe verstanden, dass er mich einlud, Werkzeug in seiner Hand zu sein, um mehr Einheit in diese Welt zu bringen und dazu beizutragen, dass sich sein letzter Wunsch erfüllt, „dass alle eins seien“.

Sie haben als palästinensische Katholikin in den USA Judaistik studiert. Was hat Sie dazu bewogen? Was verbindet die beiden Religionen?
Das Judaistik-Studium hat mir geholfen – und hilft mir noch immer –, Brücken zwischen den beiden Religionen zu schlagen. Es hat mir erlaubt, besser und tiefer zu verstehen, und es hat mir Möglichkeiten eröffnet, im Herzen des einen oder der anderen Samen des Friedens und des echten Dialogs auszusäen.
Was uns Christen mit diesen unseren Geschwistern – der Papst hat sie als „die älteren Geschwister“ bezeichnet – verbindet, ist das Alte Testament, also die Heilige Schrift, aber auch die Geschichte, der Schmerz der Verfolgungen, die Christen den Juden im Laufe der Jahrhunderte zugefügt haben.

Für Ihr Engagement im Dialog mit den Juden wie mit den Muslimen haben Sie mehrfach Auszeichnungen erhalten. Haben Sie ein Geheimnis, wie Dialog gelingen kann?
Mein Geheimnis, wenn man das so nennen kann, liegt wohl in dem Bedürfnis, möglichst unmittelbar mit der Person, der ich begegne, eine geschwisterliche Beziehung aufzubauen. Und der einzige Weg dazu besteht darin, den anderen mit der Einfachheit des Evangeliums zu lieben, so wie Jesus es tun würde, also ihn oder sie wirklich spüren zu lassen, dass er Bruder, dass sie Schwester ist. Man könnte diese Vorgehensweise auch als „Kunst zu lieben” bezeichnen, die auf einfache Art die Leitlinien des Evangeliums in wenigen Punkten zusammenfasst: „alle lieben“, „als erste lieben“, „mit Taten lieben“, „sich einsmachen mit dem anderen“, „auch die Feinde lieben“, „das Göttliche im Anderen erkennen und daran glauben“. Mit dieser „Methode“ erwacht früher oder später auch im anderen ein Interesse an dir, das sich nach und nach in gegenseitige Wertschätzung verwandelt.
Aus eigener Erfahrung kann ich hinzufügen, dass es auch noch andere Faktoren gibt, die dazu beitragen, dass echter Dialog gelingen kann. Dazu gehört zum Beispiel die Bereitschaft, mit einem Herzen und einem Verstand zuzuhören, die frei von Vorurteilen und Vorbedingungen sind; die Perspektive des anderen einzunehmen, um seine Beweggründe zu verstehen; keine anderen Absichten zu haben als die, das Herz des anderen zu erreichen oder den anderen als Geschenk für mich wahrzunehmen.

Papst Franziskus hat Ihnen als neue Präsidentin bei der Antrittsaudienz die „dynamische Treue“ zum Charisma Chiara Lubichs ans Herz gelegt. Was heißt das für Sie, und was hat die Fokolar-Bewegung der Welt und der Kirche heute zu geben?
Der Begriff „dynamische Treue”, den Papst Franziskus verwendet hat, ist ein wunderbares Konzept, das uns allen große Freude bereitet hat. Es bedarf keiner großen Erklärungen oder Interpretation, weil der Papst selbst es sehr gut erklärt hat. „Dynamische Treue“, so hat er gesagt, ist „imstande, die Zeichen und Bedürfnisse der Zeit zu erkennen und auf die neuen Anforderungen, vor denen die Menschheit steht, zu antworten“.

Jedes Charisma ist kreativ, es ist keine Statue aus dem Museum, nein, es ist kreativ. Es geht darum, der ursprünglichen Quelle treu zu bleiben und sich zu bemühen, sie zu überdenken und sie im Dialog mit den neuen sozialen und kulturellen Situationen zum Ausdruck zu bringen. Um zu verstehen, was das bedeutet, muss man nur an die derzeitige Pandemie denken: Mehr als je zuvor erkennt die Menschheit, wie sehr sie verknüpft ist und dass sich keiner mehr allein retten kann. In dieser dramatischen Situation ist ein Charisma wie das von Chiara Lubich, das mit Hilfe von solidarischen Beziehungen den Aufbau einer weltweiten Geschwisterlichkeit anstrebt und dazu einlädt, das Vaterland des anderen zu lieben wie das eigene, von extremer Aktualität.

Was haben wir zu geben?
Ein Charisma ist niemals eine Gabe, die eine Person oder eine Gruppe für sich selbst erhält. Es ist nur dann wahr und authentisch, wenn es zum Geschenk für die Kirche und die Welt wird. Dabei zeigen uns oft gerade Personen, die nicht unserer Bewegung angehören, worin unsere spezifische Begabung liegt: in einem globalen Blick auf die Menschheit, der „geeinten Welt“, wie wir das gerne bezeichnen; in einem weltweiten, gut organisierten Netzwerk mit großer Erfahrung hinsichtlich wechselseitiger Verknüpfungen; in einer besonderen Sensibilität für interkulturelle Aspekte; in der ausgesprochenen Fähigkeit, mit Menschen jedweder Überzeugung, auch wenn sie nicht religiöser Natur ist, in Dialog zu treten und zusammenzuarbeiten. Und die Liste ließe sich fortsetzen.
All das ist ein großer Schatz, den wir mit Mut, aber auch mit Demut anzubieten haben, immer in der Gewissheit, dass wir diesen Schatz, wie es der Apostel Paulus sagt, „in zerbrechlichen Gefäßen“ tragen.

Religion wird oft dazu missbraucht, Motive zu verschleiern.
Margaret Karram

… der einzige Weg besteht darin, den Anderen mit der Einfachheit des Evangeliums zu lieben.
Margaret Karram

INTERVIEW: Eva-Maria Kirchner-Pree

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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