In Erinnerung
Mut zur offenen Frage

Im Oktober 1972 gestaltete Martin Gutl seine erste Kolumne „telegramme für denkende Christen“ für die österreichweite Jugendzeitung „Die Wende“. | Foto: Sammlung des Verfasser
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  • Im Oktober 1972 gestaltete Martin Gutl seine erste Kolumne „telegramme für denkende Christen“ für die österreichweite Jugendzeitung „Die Wende“.
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In einem Rundblick auf die steirische Literatur ihrer Gegenwart registrierte die Grazer Dichterin Grete Scheuer 1978 einen neuen religiösen Aufbruch hierzulande und sah diesen Aufbruch in zwei Persönlichkeiten verkörpert.

Zwei steirische Priester, der eine heißt Martin Gutl, der andere ist Josef Fink. Sie sind wichtig. Wo sie predigen, sind die Kirchen voll“, so Grete Scheuer wörtlich.
Ihre erste Lesergemeinde fanden Gutl und Fink, beide Angehörige des Weihejahrgangs 1966, in der vom Katholischen Jugendwerk Österreichs herausgegebenen, in Graz redigierten Wochenzeitung „Die Wende“.
Fink schrieb für diese Zeitung eine umfangreiche Serie über moderne Literatur, Gutl gestaltete dort eine Kolumne mit dem schönen Titel „telegramme für denkende Christen“ (der Zeitmode entsprechend teilweise kleingeschrieben). Die erste Folge erschien vor bald fünfzig Jahren, im Oktober 1972. Der Verfasser, damals Kaplan an der Grazer Hochschulgemeinde, schickte ihr die folgende Erklärung voraus: „Man könnte die Kolumne auch: ‚Einfach oder mehrfach zum Nachdenken‘ nennen. Die Texte streben nach einer Vermittlung zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen Utopie und Verwirklichung. Sie stellen einen Versuch dar, weltbezogen zu denken und zu beten.“

Sprechtexte
An diesem Programm, diesem inneren Auftrag hielt Martin Gutl unbeirrt fest bis zuletzt, bis die unheilbare Krankheit ihm die Sprache nahm und ihn verstummen ließ. Den schwierigen Versuch, weltbezogen zu denken und zu beten, unternahm er – wie die lange Reihe seiner Bücher eindrucksvoll bezeugt – in immer neuen Anläufen und Variationen. Der Telegrammstil seiner frühen Texte blieb dabei ebenso erhalten wie sein Hang zur kurzen rhythmischen Zeile und zur litaneihaften Repetition, was aus fast allen seinen Texten Sprechtexte macht, ideal für den mündlichen Vortrag, sei es innerhalb oder außerhalb eines liturgischen Rahmens.

Kein Wortemacher
Gutls Sprache ist auf Äußerste verknappt, seine Sätze wirken oft gehetzt, wie eilig zwischen zwei Terminen aufs Papier geworfen, und atmen dabei doch eine große innere Ruhe. Es ist eine Sprache, die unmittelbar einwirken will auf das Publikum, die nicht beschwichtigen, sondern aufrütteln will, die Trost zu spenden weiß, aber auch das Trostlose nicht scheut, eine Sprache, die nicht den Anspruch erhebt, poetisch zu sein, und dennoch von einem poetischen Elan durchströmt ist, zumindest dort, wo sie nicht zur Formel erstarrt, sondern sich in der Schwebe hält zwischen Gebet und tagebuchartiger Meditation, wo sie sich offen hält für alle Zweifel und Fragen: „Wer war ich vor meiner Geburt? / Wer war ich als Kind? / Wer bin ich heute? / Lebe ich besinnungslos? / Schweige ich, wo jemand ungerecht verurteilt wird? /Habe ich etwas zu sagen, wenn ich rede?“
Nein, ein bloßer Wortemacher ist Martin Gutl niemals gewesen, auch keiner von den Welterklärern, die auf alles eine Antwort wissen. Sein wohl bekanntestes Buch, „Der tanzende Hiob“ von 1975, beginnt bezeichnenderweise mit einem großen, bohrenden „Warum?“: „Warum bete ich, wo ich zugeben muß, wie sehr es auf mich ankommt? / Warum lache ich, wo viele nichts zu lachen haben? / Warum sag ich nach der zehnten Enttäuschung: Es hat einen Sinn!“
Der Text weigert sich konsequent, dieses Geheimnis zu erklären, er lässt alle Fragen offen, und gerade in diesem Mut zur offenen Frage liegt, so scheint mir, Martin Gutls eigentliches, zeitloses Vermächtnis.

Christian Teissl

Wichtige Texte von Martin Gutl finden sich in dem von Karl Mittlinger herausgegebenen Buch: In vielen Herzen verankert. Ausgewählte Texte. Graz: Styria 2014.


ORIGINALTON


Ich habe es gesehen

Ein Mensch vor mir
Da liegt ein Mensch vor mir, zusammengerollt wie eine Buchrolle, ein Bündel, eine Lebensgeschichte, ein in Lumpen gehüllter Leib, eine in Lumpen gehüllte Seele. Ein Mensch auf der Straße, kein Freund, kein Feind, ein Obdachloser, zum Darübersteigen.
Da ist ein Mensch, der schläft vor mir auf der Straße, ohne Heimat, ohne Freunde, und schläft so ruhig, ruht in seinem guten Gewissen, ruht in Gott.

Drei Dinge
„Drei Dinge bewahren dich vor dem Sprung in den Schnellzug“, sagte der Mann, der von seinem Selbstmordversuch zurückkehrte. „Kreuz, Anker und Herz.“ Anders gesagt: Glaube, Hoffnung und Liebe.
Ich hatte vorher keine Kraft, ihn von seinem Entschluss abzubringen. Ich hatte nur eine Hoffnung: Wo ich müde bin, ist ein Anderer stark.
Meine Worte überzeugten ihn nicht. Aber meine Gebete hatten bereits das Sprungtuch ausgebreitet.

Stehen bleiben
Von einer fröhlichen Runde kommend, gehe ich zum Friedhof. Da stehen zwei Mädchen, die weinen. Sie haben in diesem Jahr den Vater verloren. Und jetzt, nach einigen Monaten, die Mutter: „Wir haben so viel gebetet. Gibt es wirklich keinen Gott?“
Die Frage „Warum?“ hat noch nicht ausgedient.
Ich schweige, ich stehe wortlos da als Zeuge Gottes. Stehen bleiben, das ist meine Antwort.

Aus Martin Gutls Zyklus „Ich habe es gesehen“ in dem gemeinsam mit Josef Dirnbeck verfassten Band „Ich wollte schon immer mit dir reden“, Styria 1979.

Im Oktober 1972 gestaltete Martin Gutl seine erste Kolumne „telegramme für denkende Christen“ für die österreichweite Jugendzeitung „Die Wende“. | Foto: Sammlung des Verfasser
Der Dichter und Priester Martin Gutl wurde vor 80 Jahren, am 28. April 1942, in Mühldorf bei Feldbach geboren. | Foto: KK
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SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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