Kreuze stehen auf
Mit Bulldozzern walzten die kommunistischen Machthaber vor 60 Jahren den Berg der Kreuze in Litauen nieder. Doch sehr rasch gab es hier eine „Auferstehung“.
Am Morgen des 5. April 1961 rückten die Bagger an. Die Sowjets räumten einen der heiligen Orte der Litauer ab: den Berg der Kreuze. Ein eigenartiger Ort. Ein rund zehn Meter hoher Hügel mit einem Meer von Kreuzen. Etwa 2200 sollen es damals gewesen sein. Zu viele für das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei, dem die christliche Andachtsstätte schon lange ein Dorn im Auge war. Treue Christen und politisch Verfolgte hatten in den Jahren zuvor immer mehr Kreuze hinzugefügt.
Nun war es den Machthabern genug. Die Holzkreuze wurden demonstrativ verbrannt, jene aus Metall verschrottet, die aus Stein zerschlagen und vergraben. Doch schon in der folgenden Nacht wurden die ersten neuen gesetzt, danach immer weitere. Mitte der 1970er-Jahre nahm das Regime mehrere neue Anläufe, zuletzt 1975. Abräumen – und dann zuschauen, wie der „Berg der Kreuze“ buchstäblich wieder wächst. So machte man sich erst recht lächerlich.
Ein Friedhof ist der Kreuzesort nicht. Zur Entstehung der Tradition gibt es mehrere Legenden. So habe ein Vater am Krankenbett seiner Tochter im Traum den Befehl erhalten, auf diesem Hügel ein Kreuz aufzustellen – die Tochter wurde gesund. Eine andere Geschichte handelt von einem Fürstenstreit: Ein Adeliger aus Vilnius habe auf dem Weg zum Prozess das Gelübde abgelegt, hier ein Kreuz zu errichten, sollte er vor Gericht gewinnen. Er errichtete es. In der Neuzeit jedenfalls war der Ort eine Gebetsstätte.
Mit der sowjetischen Okkupation wurde der Berg der Kreuze, schon seit dem Mittelalter ein geschichtsträchtiger Ort, politisch. 1953 kehrten nach Stalins Tod deportierte Litauer aus Sibirien zurück und errichteten hier Kreuze für jene Kameraden, die im Gulag gestorben waren. Alle Versuche der Kommunisten, das Symbol litauischen Widerstands zu unterdrücken, führten nur zu noch mehr Kreuzen. 40.000 sollen es nach der Wende 1990 gewesen sein.
1993 adelte Papst Johannes Paul II. die Stätte endgültig, als er hier mit rund 100.000 Menschen eine Messe feierte und den Bau eines Klosters anregte, betreut von den Franziskanern. Eine große Christus-Figur, ein Geschenk des Papstes, wurde 1994 aufgestellt.
Selbst wenn der weite Himmel über dem Baltikum wolkenverhangen ist, entfaltet der Ort seine mystische Kraft. Abertausende Kreuze, ineinander verkeilt, übereinander gehängt, in allen Größen, Formen und Materialien. Aus Holz die meisten, fein bemalt, graviert, kunstvoll geschnitzt oder grob aus Brettern zusammengezimmert. Gedenkkreuze für antikommunistische Partisanen; Dank für Genesung oder Kindersegen; von Bikern aus Deutschland, Marienfrömmigkeit aus Polen, Grüße aus Japan, Trauer um eine gestorbene Freundin aus Finnland.
Heute ist es fast selbstverständlich, in Siauliai (so heißt der Ort) ein Kreuz aufzustellen. Vor 60 Jahren aber waren die Zeiten hochgradig ideologisch. Eine Woche nach der sowjetischen Räumung am Berg der Kreuze startete im April 1961 Jurij Gagarin als erster Mensch ins Weltall. Bei seiner Rückkehr spottete er, Gott habe er dort oben nicht getroffen.
Alexander Brüggemann
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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