Glaube
Christentum im modernen Europa

In einem modernen Europa sind die Gemeinden lebendige Orte der gemeinsamen Christus-Suche. | Foto: Neuhold
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Wie ist es um die Zukunft des Christentums in Europa bestellt?
Dieser Frage geht der Philosoph und Theologe Hans Schelkshorn im Interview nach.

Manche sagen, das Christentum in Europa stecke in einer Krise. Was sind die Hintergründe dafür und wie schätzen Sie die Zukunftsfähigkeit des Christentums in Europa ein?
Hans Schelkshorn: In Europa sind wir bereits seit Längerem Zeugen einer dramatischen Erosion der sogenannten Volkskirche. Jede Krise ist allerdings auch eine Chance für eine Erneuerung. Doch die christlichen Kirchen sind heute innerlich zerrissen. Konservative und liberale ChristInnen werfen einander gegenseitig vor, die Kirche zu zerstören. Die Auseinandersetzungen kreisen allerdings zumeist um Fragen der Ordnung der Kirche, z. B. der Mitbestimmung der Laien, oder um Fragen der Moral, vor allem der Sexualmoral. Diese Fragen sind ohne Zweifel wichtig, denn in den letzten Jahrzehnten haben sich zahlreiche Menschen, insbesondere Frauen, wegen mangelnder Reformen von der katholischen Kirche abgewandt.

Doch die Krise des Christentums hat weitaus tiefere Gründe. In Frage steht letztlich: Was ist die zentrale Botschaft des Christentums? Denn zentrale Inhalte des christlichen Glaubens, wie z. B. der Glaube an Jesus als Sohn Gottes oder der stellvertretende Sühnetod Jesu sind heute auch für ChristInnen keineswegs selbsteinsichtig. Dies bedeutet: Die Zweifel und die Kritik am Christentum, die im 18. Jahrhundert von den Philosophen der Aufklärung artikuliert worden sind, haben inzwischen auch das sogenannte Kirchenvolk erfasst.

Welche kritischen Auseinandersetzungen braucht es, damit das Christentum in Europa zukunftsfähig sein kann?
Schelkshorn: Ich sehe vor allem zwei zentrale Herausforderungen für die Zukunftsfähigkeit des Christentums. Spätestens seit der Aufklärung sind auch Fragen der Religion in den Sog kritischer Vernunft geraten. Dogmatische Wahrheitsansprüche stoßen im modernen Europa entweder auf strikte Ablehnung oder schlicht auf eine Haltung der Gleichgültigkeit. Vor diesem Hintergrund hatte bereits Mitte des 20. Jahrhunderts der Philosoph Karl Jaspers die Hoffnung auf eine grundlegende Wandlung des europäischen Christentums artikuliert. Da ein dogmatischer Offenbarungsglaube in der Moderne nicht mehr akzeptiert werden kann, das Christentum jedoch spirituell und moralisch die Geschichte Europas zutiefst geprägt hat, stellt Jaspers fast in beschwörendem Ton die Frage, ob sich die christlichen Gemeinden in einen Ort der gemeinsamen Suche nach einer zeitgemäßen Auslegung des Christentums verwandeln können.

Zweitens bedarf es einer radikalen Rückbesinnung auf das Erbe der Propheten, das von Jesus in der Botschaft von der Ankunft des Gottesreiches aufgegriffen wird. Seit den Kirchenvätern ist die Bedeutung des Reiches Gottes immer wieder einseitig in das Jenseits verlegt worden. Bei den Propheten steht jedoch die soziale Gerechtigkeit hier auf Erden, genauer die Überwindung von Ausbeutung und Knechtschaft, im Zentrum. Auch Jesus spricht im Lukasevangelium das Reich Gottes vor allem den Armen zu. Dies bedeutet: Die christliche Rede vom Reich Gottes sprengt zwar durch die Hoffnung auf die Auferstehung die Grenzen des Irdischen. Das Christentum ist jedoch keine Religion der Weltverachtung oder Weltflucht, auch keine Vertröstung auf das Jenseits. Daher bitten wir auch im Vaterunser: „Dein Reich komme, ... wie im Himmel, so auf Erden.“

Das heißt, der prophetische Glaube an der Seite der Armen sollte stärker eingefordert werden …
Schelkshorn: Die Rückbesinnung auf das Erbe der Propheten ist von zentraler Bedeutung für eine Erneuerung des Christentums. Für die Propheten besteht die Erkenntnis Gottes in der Praxis der Gerechtigkeit, konkret dem Dienst an den Armen, Witwen und Waisen. Mehr noch: Ohne ein Leben für die Gerechtigkeit verlieren „religiöse“ Handlungen ihre Bedeutung. Gott kann nach Jesaja die Gebete der Menschen nicht mehr hören, die religiösen Feste nicht mehr ertragen, weil ihre Hände voll Blut sind.

Auch im Neuen Testament, denken Sie an die Schilderung des Endgerichts im Matthäusevangelium (Kapitel 25), werden die Menschen nur danach gefragt werden, was sie den Hungernden, Dürstenden und Nackten getan haben. Von kultischen Pflichten oder gar Dogmen ist hier keine Rede. Auch säkulare Bürgerinnen und Bürger, selbst hartgesottene Atheisten und Atheistinnen nehmen – dies sollte uns zu denken geben –
den Dienst an den Armen unmittelbar als christliches Zeugnis wahr.

In Vorträgen sprechen Sie immer wieder vom vernünftigen Glauben jenseits von Traditionalismus und Spiritualismus. Was meinen Sie konkret damit?
Schelkshorn: In den christlichen Kirchen sind in den letzten Jahrzehnten vor allem zwei extreme Strömungen mächtig geworden. Einerseits versuchen traditionalistische Kreise eine bestimmte historische Gestalt der Kirche für alle Zukunft zu zementieren; andererseits berufen sich spiritualistische Erweckungsbewegungen, die von manchen katholischen Bischöfen in jüngerer Zeit massiv gefördert worden sind, auf eine unmittelbare persönliche Offenbarung. Beide Strömungen verweigern sich einer kritischen Auseinandersetzung mit den geistigen Herausforderungen der gegenwärtigen Moderne. Auf diese Weise droht das Christentum zu einer Sekte zu werden.

Ohne ein Leben für die Gerechtigkeit verlieren „religiöse“ Handlungen ihre Bedeutung.


Die Strategie der Abschottung widerspricht zudem in fundamentaler Weise der Geschichte des europäischen Christentums, das sich über Jahrtausende hinweg jeweils auf die Philosophien ihrer Zeit eingelassen und sich selbst immer wieder neu ausgelegt hat. Die Selbstghettoisierung hat auch gesellschaftspolitische Folgen. Wer eine kritische Auseinandersetzung mit seinem Glauben umgeht, ist auch an öffentlichen politischen Debatten wenig interessiert.

Wie wichtig ist angesichts der erlebten Vielfalt von Religionen und Kulturen der interreligiöse Dialog?

Schelkshorn: Da in den letzten Jahrzehnten fundamentalistische Strömungen in zahlreichen Religionen mächtig geworden sind, ist der interreligiöse Dialog ohne Zweifel ein Gebot der Stunde. Religionen können jedoch nur in einen ehrlichen Dialog eintreten, wenn sie ihre Wahrheitsansprüche kritisch reflektieren und sich auf die Moderne öffnen. In dieser Perspektive sind in der Mitte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Reformtheologien – Mahatma Gandhi in Indien, Muhammad Iqbal in der islamischen Welt oder die lateinamerikanische Theologie der Befreiung, um nur einige wenige zu nennen – aufgetreten, die einerseits den Dialog mit anderen Religionen gesucht haben und sich andererseits für Menschenrechte, Demokratie und Gerechtigkeit engagiert haben. Zu einem solchen interreligiösen Dialog müssen wir heute vielfach erst wieder zurückfinden.

Interview: Susanne Huber

◉ Tipp: Professor Schelkshorn referiert im November und Dezember im Rahmen einer Vortragsreihe zur Zukunft des Christentums an der Akademie am Dom in Wien. Alle Veranstaltungen können auch online besucht werden. Infos: www.akademie-am-dom.at

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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