Ernesto Cardenal
Christ und Marxist
Ernesto Cardenal. Der Befreiungstheologe und Dichter aus Nicaragua, als Minister der Sandinisten einst vom Papst gemaßregelt, starb im 95. Lebensjahr.
Der Mann mit den langen weißen Haaren und der Baskenmütze war eine der schillerndsten Figuren Lateinamerikas. Er nannte sich selbst „Sandinist, Marxist und Christ“. Für Linke war er seit dem Sturz der Somoza-Diktatur 1979 der Beweis dafür, dass sich Christentum und Marxismus nicht widersprechen. Damals hatte ein Bündnis den seit 1936 an der Macht klebenden Familien-Clan aus dem Land getrieben. Erstmals in der Geschichte erkämpften Christen und Kommunisten gemeinsam einen Machtwechsel. Katholische Konservative sahen in Cardenal indes den gefährlichen Vorkämpfer einer falschen Bibelauslegung.
Weil er wie zwei weitere Geistliche ein Ministeramt in der Revolutionsregierung übernommen hatte, verbot ihm Papst Johannes Paul II. 1985 die Ausübung des priesterlichen Dienstes. Das fand der Gescholtene zwar „völlig ungerecht“ – schließlich habe die Bischofskonferenz den Schritt genehmigt. Unternehmen wollte er jedoch nichts gegen die Bestrafung. Selbst nachdem Ex-Außenminister Miguel D’Escoto den Papst gebeten hatte, wieder das Priesteramt ausüben zu dürfen, und Franziskus dem Wunsch sofort entsprach.
Cardenal reagierte auf seine Art – stoisch-stur und auch immer ein bisschen provozierend: „Mein Priesteramt ist von anderer Art, deshalb ist es nicht nötig, die Aufhebung der Sanktion zu betreiben.“ Punkt.
Im Februar 2019 hob Franziskus das Verbot dennoch auf. Eine späte Geste der Versöhnung. Cardenal hatte mehrfach Sympathien für den ersten Papst aus Lateinamerika bekundet: „Er ist dabei, die Dinge im Vatikan auf den Kopf zu stellen. Nein, genauer ausgedrückt: Er stellt die Dinge, die verkehrt herum stehen, wieder auf die Füße.“
Doch Cardenal, der sich als völlig unmusikalisch und farbenblind beschrieb, stand für mehr als die Auseinandersetzung mit seiner Kirche. Seit Jahrzehnten bekam er für sein literarisches Werk internationale Auszeichnungen, so 1980 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Kritiker nannten ihn den „Begründer der mystischen lateinamerikanischen Literatur“ oder einen „der originellsten christlichen Mystiker des 20. Jahrhunderts“.
1966 gründete der Nonkonformist, der auch mit über 90 im deutschen Winter mit offenen Sandalen über Eis und Schnee ging, auf der Insel Solentiname im Nicaragua-See eine an radikal-urchristlichen Idealen orientierte Gemeinschaft. Es entstand sein vielleicht wichtigstes Buch, das „Evangelium der Bauern von Solentiname“, in dem der Priester vom Bemühen der Menschen erzählte, ihr Leben im Licht der Botschaft Jesu zu deuten.
Von seinem einstigen politischen Weggefährten, Nicaraguas Präsident Daniel Ortega, hatte sich der Dichter schon lange losgesagt. Ortega sei ein „kleiner, mieser Diktator“, sagte der Poet unverblümt. Bis zuletzt hingegen hielt Cardenal Christentum und Marxismus für miteinander vereinbar und prognostizierte entgegen allen Trends ein „Jahrhundert eines marxistischen Christentums“. Die wichtigste Entscheidung seines Lebens sei, dass er sich Gott verschrieben habe „und damit auch dem Volk und der Revolution“.
Michael Jacquemain
Im Innersten verborgen
Textbeispiele von Ernesto Cardenal.
In den Augen aller Menschen wohnt ein unstillbares Begehren.
In den Pupillen der Menschen aller Rassen, in den Blicken der Kinder und Greise, der Mütter und liebenden Frauen, in den Augen des Polizisten und des Angestellten, des Abenteurers und des Mörders, des Revolutionärs und des Diktators und in denen des Heiligen:
In allen wohnt der gleiche Funke unstillbaren Verlangens, das gleiche heimliche Feuer, der gleiche unendliche Durst nach Glück und Freude und Besitz ohne Ende.
Dieser Durst, den alle Menschen spüren, ist die Liebe zu Gott. Gott ist die Heimat aller Menschen. Er ist unsere einzige Sehnsucht. Gott ist im Innersten aller Kreaturen verborgen und ruft uns.
* * *
Höre meine Worte, Herr, höre mein Seufzen, hör meinen Protest, denn du bist Gott und kein Freund der Diktatoren … Ihre Reden sind unaufrichtig wie ihre Presse-Erklärungen. Sie sprechen vom Frieden – und steigern die Rüstungsproduktion. Auf ihren Konferenzen reden sie vom Frieden, doch im Geheimen bereiten sie Krieg vor …
Straf sie, o Gott! Lass scheitern ihre Politik! Bringe ihre Memoranden durcheinander! Verhindere ihre Programme!
Wer ihren lügnerischen Parolen nicht glaubt, wer ihrem Werben und ihren politischen Kampagnen nicht traut, den segnest Du, den umgibst Du mit deiner Liebe. (Nach Psalm 5)
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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