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EU-Sehnsucht in Südosteuropa

Die Südosteuropa-Korrespondentin Adelheid Wölfl, im Bild am Ursprung des Flusses Bosna, nach dem Bosnien benannt ist, schreibt unter anderem für Zeitungen wie „Der Standard“. Für uns erzählt sie von der großen EU-Sehnsucht am Westbalkan. | Foto: privat
  • Die Südosteuropa-Korrespondentin Adelheid Wölfl, im Bild am Ursprung des Flusses Bosna, nach dem Bosnien benannt ist, schreibt unter anderem für Zeitungen wie „Der Standard“. Für uns erzählt sie von der großen EU-Sehnsucht am Westbalkan.
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Längst vergessen?

Warum in Südosteuropa die Sehnsucht nach der EU groß ist.

Letzte Woche, als ich in dem kleinen Gemischtwarenladen bei mir im Grätzl – in Sarajevo genannt Mahala –
einkaufte, meinte eine Frau zu der Verkäuferin in der blitzblauen Kleiderschürze: „Wir haben einfach keine Chance, in die EU zu kommen!“ Die Verkäuferin, die leuchtend rote Erdbeeren abwog, nickte: „Die EU bleibt für uns unerreichbar.“

Tatsächlich haben viele Menschen in Bosnien und Herzegowina, aber auch in den fünf anderen Westbalkan-Staaten den Glauben daran verloren, dass es die EU ernst meint. Denn es ist mehr als zwanzig Jahre her, dass ihnen der Beitritt versprochen wurde. Die Zustimmung zu einem EU-Beitritt ist laut dem Balkanbarometer in Albanien (92 %), dem Kosovo (66 %) und Montenegro (60 %) am höchsten. Auch die Mehrheit der Bosnier und Herzegowiner (52 %) würde sich freuen, Teil der EU zu sein. In Nordmazedonien (50 %) ist die Enttäuschung, dass man nicht hineingelassen wird, am stärksten zu spüren. Schließlich hat das Land gleichzeitig mit Kroatien 2005 den EU-Kandidatenstatus bekommen. Nur in Serbien (34 %) gibt es keine Mehrheit für eine EU-Mitgliedschaft.

Die Hauptgründe für die EU-Zustimmung sind die Aussicht, sich aus der Armut zu befreien, sowie die Freiheit, auch in anderen Ländern studieren und arbeiten zu können. Viele Südosteuropäer haben so wenig Geld, dass die Sorge darum, wie man die Heizung oder die Windeln bezahlen soll, oft ihre ganze Kraft und Aufmerksamkeit braucht. Sie wünschen sich „ein normales Leben“, wie sie oft sagen. Sie sehen andere EU-Europäer, wie etwa die Österreicher, als reine Glückspilze, weil diese es sich leisten können, zum Arzt zu gehen, wenn sie krank sind, weil die Luftverschmutzung in Österreich nicht so hoch sein darf, dass Großeltern oder Kinder gesundheitlich gefährdet werden. Sie wollen auch in die EU, weil sie wissen, dass Brüssel verlangt, dass es vertrauenswürdige Behörden gibt, die ihnen Lebensmittelsicherheit garantieren.

Stabilität. Südosteuropa ist einer der schönsten, vielfältigsten und interessantesten Teile Europas. Und dennoch mussten Millionen aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat Richtung EU verlassen. Auch der Wunsch nach Frieden und Stabilität ist laut dem Balkanbarometer Grund für EU-Sehnsucht. Tatsächlich sind vor allem die Staaten Bosnien und Herzegowina und Kosovo durch großserbische Interessen und den Einfluss des Kreml wieder gefährdet. Die Lage ist fragil, und viele Menschen, die in den 1990er Jahren vertrieben oder wie in Sarajevo jahrelang beschossen wurden, haben Angst, dass der Krieg wiederkehren könnte. In einem vereinten Europa würden sie sich geschützter und weniger bedroht fühlen, ein Anliegen, das die meisten anderen Europäer längst vergessen haben, weil sie in Sicherheit leben.

Adelheid Wölfl, Jahrgang 1972, hat einen Master in vergleichenden Sozialwissenschaften und ihre Ausbildung zur Journalistin bei dem Wochenmagazin profil und an der Universität Wien gemacht. Ab 2004 arbeitete sie zunächst als Redakteurin im Ressort Außenpolitik in Wien, wo sie sich für den Raum Südosteuropa spezialisierte. Sie ist seit 2012 Korrespondentin für den Standard und für viele andere Zeitungen und lebt in Sarajevo, von wo sie aus die gesamte Region bereist.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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