Interview
Ohne Recht kein Staat
Vor 100 Jahren, am 1. Oktober 1920, wurde das Bundes-Verfassungsgesetz beschlossen – die rechtliche Grundlage unserer Republik. Das zentrale Verfassungsdokument hat mehrere Mitgestalter, aber vor allem einen Architekten: Hans Kelsen, Rechtswissenschaftler und Denker von Weltrang. Über Kelsens Beitrag zur Verfassung, seine „Reine Rechtslehre“ und sein Verhältnis zur Religion spricht der Rechtshistoriker Thomas Olechowski im Interview. Er hat heuer eine umfassende Kelsen-Biografie veröffentlicht.
Interview: Heinz Niederleitner
In Ihrer Biografie beschreiben Sie die Rolle Kelsens bei der Erstellung des Bundes-Verfassungsgesetzes als die eines Architekten: Mit seiner Sachkenntnis setzte er das um, was politisch ausverhandelt war. Muss man dabei nicht betonen: Kelsen war selbst überzeugter Demokrat?
Thomas Olechowski: Ja natürlich. Er war ein Befürworter der parlamentarischen Demokratie und des Verhältniswahlrechts, aber ein Skeptiker gegenüber einer starken Rolle des Bundespräsidenten und kein Freund des Föderalismus. Kelsens eigene Vorstellungen flossen aber nicht unbedingt in den Verfassungstext ein. Er bekam seine Vorgaben von Staatskanzler Karl Renner und hat eine Reihe von Verfassungsentwürfen geschrieben. Von diesen Varianten wurde ein Text zur weiteren Beratung ausgewählt. Bei den Beratungen kam Kelsen dann weiteren Änderungswünschen seiner Auftraggeber nach.
Ein Wort im zweiten Satz des Bundes-Verfassungsgesetzes geht aber direkt aus Kelsens Denken hervor. Dort steht: „Das Recht geht vom Volk aus“, es heißt nicht: die Staatsgewalt. Warum?
Damals war es herrschende Lehre, der Staat sei sowohl etwas Juristisches als auch etwas Soziales. Kelsen hat nachgewiesen, dass der Staat nichts anderes ist als die Rechtsordnung. Denkt man sich das Recht weg, gibt es auch den Staat nicht.
Kelsen wechselte vom Judentum zur katholischen und dann weiter zur evangelischen Kirche. Welchen Bezug hatte er zu Religion?
Die beiden Konversionen geschahen aus pragmatischen Gründen: Als Jude hätte er damals keine Chance gehabt, im Staatsdienst zu arbeiten. Damals war es für jüdische Jusstudenten üblich, sich vor der letzten Prüfung taufen zu lassen. So hat es auch Kelsen gehalten. Der Übertritt zur evangelischen Kirche hat wohl mit seiner Eheschließung zu tun: Damals galt für Katholiken auch nach staatlichem Recht, dass sie sich nicht scheiden lassen konnten. Wenige Tage vor seiner Hochzeit wechselte Kelsen zur evangelischen Kirche, wo eine Scheidung auch nach staatlichem Recht möglich war. Die Konfession war Kelsen offenbar nicht wichtig. Er hat zwar Weihnachten mit Christbaum gefeiert, war aber Agnostiker: Anders als ein Atheist lehnt dieser Gott nicht ab, sondern sagt lediglich: Wir können es nicht wissen. All das hat Kelsen nie gehindert, sich intensiv mit dem Christentum auseinanderzusetzen – zum Beispiel mit der Gerechtigkeitslehre des Jesus von Nazaret. Seine liebste Bibelstelle war das 18. Kapitel des Johannesevangeliums. Dort sagt Jesus: „Ich bin in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege.“ Und Pilatus fragt zurück: „Was ist Wahr-
heit?“
Bei Kelsen steht Pilatus überraschenderweise als Demokrat da …
Ja, denn Jesus antwortet nicht, und Pilatus geht hinaus und fragt das Volk, was mit Jesus geschehen soll. Kelsens Haltung ist: Wenn man die Antwort nicht weiß, muss man abstimmen. Es gibt zwar keine Garantie, dass die Mehrheit recht hat. Aber laut Kelsen kann nur Gott erkennen, was letztlich gerecht ist. Den Menschen bleibt nur das Abstimmen. Kelsen war Humanist und Pazifist. Ausgehend von der indischen Philosophie ist er von der Wiedererkennung des Ich im Du ausgegangen: Der andere – das bin ja ich, den muss ich genauso behandeln wie mich selbst. Das ist natürlich auch eine zutiefst christliche Haltung (vgl. Mt 7,12). Kelsen hat Pazifismus und Demokratie aufeinander bezogen – im Gegensatz zu Diktatur und Imperialismus, wo dem anderen der eigene Wille aufgezwängt werden soll.
Als Verfassungsrichter ist Kelsen dafür eingetreten, dass sich geschiedene Katholiken zumindest staatlich gültig neu verheiraten können (Dispensehen-Frage) – entgegen den Vorstellungen der Kirche. Gleichzeitig hatte er stets Kontakt zu katholisch-konservativen Personen. Wie passt das zusammen?
Kelsen hat sich immer um Kontakte gerade auch zu Menschen bemüht, die seine Überzeugungen nicht teilten. August Maria Knoll, ein katholischer Soziologe, hat Kelsen einmal gefragt: „Herr Professor, Sie sind ganz anders als ich: Sie sind Liberaler, ich bin Katholik, Sie sind Sozialist, ich bin Monarchist – warum fördern Sie mich?“ Kelsen soll Knoll umarmt und gesagt haben: „Gerade weil wir so verschieden sind.“ Wer gut argumentiert hat, aber zu anderen Ergebnissen kam, dem hat Kelsen sich nicht verschlossen. Übrigens gibt es starke Hinweise dafür, dass er zur Zeit der Verfassungserstellung auch ein freundschaftliches Verhältnis zu Ignaz Seipel (der Führungsperson des politischen Katholizismus in der Ersten Republik, Anm.) hatte.
Die Naturrechtslehre der katholischen Kirche besagt, dass aus der von Gott geschaffenen Natur (dem Sein) rechtliche Normen (das Sollen) ableitbar sind. In Kelsens Reiner Rechtslehre sind Sein und Sollen strikt getrennt. Bis heute tut sich die Kirche schwer mit Kelsen. Muss das so sein?
Viele Anhänger der Reinen Rechtslehre waren und sind Katholiken: Adolf Merkl, Alfred Verdross – und auch ich. Das ist also kein Ausschließungsgrund. Wichtig ist, eine klare Unterscheidung zu machen: Wo beginnt die Wissenschaft, und wo endet die Religion? Kelsen und Verdross haben sich gemeinsam um eine mögliche Kompromissformel bemüht. Die Reine Rechtslehre lehrt, dass alles von Menschen gemachte Recht auf der sogenannten Grundnorm, die man sich nur denken kann, beruht. Wenn jemand als Grundnorm ein Gebot Gottes (z. B. Mt 22,21) denkt, widerspricht das nicht der Reinen Rechtslehre. Der Vorteil der Reinen Rechtslehre liegt darin, dass sie von einem strikten Obrigkeitsdenken befreit: Recht ist von Menschen gemacht und kann daher fehlerhaft sein. Damit fordert sie geradezu heraus, das Recht kritisch zu hinterfragen, weil es nicht religiös untermauert wird und man sich nicht hinter Rechtsnormen verstecken kann. Das eigene Gewissen ist gefragt.
Papst Benedikt XVI. hat 2011 vor dem Deutschen Bundestag die Behauptung aufgestellt, Kelsen habe mit 84 Jahren die Unterscheidung von Sein und Sollen aufgegeben. Das hieße ja, er hätte seine Rechtslehre verworfen. Stimmt das?
Nein, da ist dem Heiligen Vater ein Fehler unterlaufen, indem er schlecht aus anderer Literatur zitiert hat. Hintergrund ist, dass Kelsen 1962 in Salzburg in der eigenartigen Situation war, vor einem katholischen Publikum darauf hinweisen zu müssen, dass das Naturrecht nur funktioniert, wenn man an Gott glaubt. Kelsen selbst hat aber die Unterscheidung von Sein und Sollen nie aufgegeben, eher sogar in seinem Alterswerk verschärft.
Benedikt XVI. hat vor einer „Diktatur des Relativismus“ gewarnt, Kelsen einen Werterelativismus vertreten. Er schrieb, wer absolute Werte der menschlichen Erkenntnis für unzugänglich betrachte, müsse andere Meinungen zumindest für möglich halten. Was meinte er damit?
Kelsen meinte nicht, dass man persönlich keine Werte haben soll. Aber er vertrat die Ansicht, dass man anderen seine Werte nicht aufzwingen dürfe. Das entspricht auch Kelsens pazifistischer Grundhaltung.
Buchtipp:
Ein Juristenleben
Rund 1000 Buchseiten sind nicht wenig. Aber wenn es darum geht, das Leben Hans Kelsens zu beschreiben, sind sie angemessen. Denn Kelsen (1881–1973) gehört in Österreich zu den unbekannteren Genies. Umso begrüßenswerter ist die vorliegende umfassende Biografie des Rechtswissenschaftlers und Rechtsphilosophen.
Wissenschaftlich ist Kelsen für seine Reine Rechtslehre und seine völkerrechtliche Arbeit in der zweiten Lebenshälfte bekannt. Sein Leben zwischen Prag, Wien, Köln, Genf, wieder Prag und den USA spiegelt die Verwerfungen Österreichs und des 20. Jahrhunderts insgesamt wider. Als liberaler Humanist hatte es Kelsen in der geistig-politischen Enge gegen Ende der I. Republik schwer, als gebürtiger Jude musste er NS-Deutschland verlassen, als Deutschsprachiger war er in Prag in der Minderheit, und in den USA musste er sich eine neue Existenz aufbauen.
Dieses Leben faktengesättigt und unterhaltsam beschrieben zu haben, ist das Verdienst Thomas Olechowskis – und mehrerer Forschungsprojekte unter seiner Leitung. Das Buch steht auf dem festen Fundament so umfangreicher Recherchen, dass es eine Freude beim Lesen ist und großen Respekt abnötigt. Da sind 1000 Seiten gerade recht.
Ausstellungshinweis
Hans Kelsen und die Eleganz der österreichischen Bundesverfassung“, Oktober 2020 bis 5. April 2021.Jüdisches Museum, 1010 Wien, Dorotheergasse 11.
Heinz Niederleitner
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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