Familie
Die Welt anders wahrnehmen
15 bis 20 Prozent der Bevölkerung gelten als hochsensibel.
Das Konzept der Hochsensibilität wurde von Elaine Aron (1997) geprägt. Es geht davon aus, dass Hochsensibilität ein ererbtes und relativ überdauerndes Temperamentsmerkmal ist. Kennzeichnend sind eine erhöhte Empfindsamkeit gegenüber Reizen sowie eine intensivere Informationsverarbeitung im Vergleich zu Nicht-Hochsensiblen. Hochsensible nehmen die Umwelt und ihre eigenen Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, aber auch Hunger, Durst, Wärme, Kälte etc. verstärkt wahr. Die Informationen werden tiefer verarbeitet und hallen entsprechend länger nach.
Unsere Leistungsfähigkeit und unser Wohlbefinden sind am größten in dem Bereich, in dem wir weder gelangweilt noch überfordert sind. Bei Hochsensiblen reicht eine geringere Reizintensität aus, um aus diesem Gleichgewicht zu fallen. Beispielsweise können sie sich von Geräuschen überlastet fühlen, die für Nicht-Hochsensible noch in einem angenehmen Bereich sind.
Die intensivere Informationsverarbeitung zeigt sich nach Aron zumeist darin, dass Hochsensible mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung reagieren, was vom Umfeld zuweilen als schüchternes, zurückhaltendes Verhalten oder Ängstlichkeit gesehen wird – Merkmale, die in unserer (westlichen) Kultur wohl als wenig wünschenswert gelten. Erst aus dieser Stigmatisierung bzw. sozialen (Ab-)Wertung ergibt sich oft ein Leidensdruck, nicht aus der Eigenschaft selbst. Nach Aron ist Hochsensibilität ein Merkmal der Persönlichkeit, das weder negativ noch positiv ist.
Sonja Jagoditsch
ZUM NACHDENKEN
Die (Anders-)Macher
Als Eltern-Kind-Gruppen-Leiterin darf ich die unterschiedlichsten Kinder kennen lernen. Und manchmal sind es auch sehr ruhige, zurückhaltende Kinder. Sind diese Kinder hochsensibel? Das kann und will ich gar nicht beantworten. Denn das Konzept der Hochsensibilität ist in der wissenschaftlichen Forschung noch jung, und es gibt unterschiedliche Meinungen dazu. Hochsensibilität ist KEINE Störung, es ist EINE Möglichkeit der Verarbeitung von Informationen und Reizen.
Hochsensible Menschen oder Eltern betroffener Kinder werden meist überhaupt erst auf das Konzept aufmerksam, weil sie mit den Schattenseiten dieser Eigenschaften konfrontiert werden. Eltern, deren Kind lieber beobachtend verharrt als mit anderen Kindern zu spielen, sind oft beunruhigt. Häufig auch deswegen, weil dieses Verhalten vom Umfeld kritisch beäugt wird. Das verstärkte Bedürfnis nach Erholung und Rückzug wird als Schwäche gesehen.
In jeder Kultur gibt es bestimmte Ausprägungen von Eigenschaften, die als Ideal angesehen werden, in unserer Kultur nehme ich wahr, dass dies eher die Eigenschaften der „Macher“ sind. Andere, zurückhaltende Ausprägungen werden oft (sozial) abgewertet, eben als Schwäche wahrgenommen.
Wir sollten uns fragen, was uns als Gesellschaft verloren geht, wenn wir eine große Vielfalt von Eigenschaften ausblenden oder abwerten. Vor allem sollten wir uns fragen, wie es jenen geht, die von dieser Abwertung persönlich betroffen sind.
Die Autorin ist Klinische- und Gesundheitspsychologin, Eltern-Kind-Gruppen-Leiterin und Elternbildnerin des Katholischen Bildungswerkes i. A.
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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