Familie
Darum brauchen Kinder die Natur
Der bekannte Kinderarzt, Wissenschaftler und Autor Herbert Renz-Polster im Gespräch über die Bedeutung der Natur für die kindliche Entwicklung – auch im Herbst und Winter. Ein Beitrag zum „Tag der Kinderrechte“ am 20. November.
Herr Renz-Polster, Sie haben sich in den letzten Jahren viel mit der Bedeutung von Naturerfahrungen für die kindliche Entwicklung beschäftigt. Warum ist die Natur (auch im Herbst und Winter) so wichtig für Kinder?
Renz-Polster: Wir haben in der Pandemie gesehen, wie sehr die Kinder leiden, wenn ihnen der Auslauf fehlt und sie nicht frei gestalten können. Das ist ja das Interessante bei den Kindern, dass zum Beispiel Selbstbewusstsein auch ganz stark über das Körperliche und die Sinneserfahrungen entsteht: Ich KANN KLETTERN, das ist die Verkündung eines Triumphs. Es sagt: Ich bin nicht ausgeliefert, ich bin der Welt gewachsen. Und das Besondere am Spielen in der Natur ist, dass sie den Kindern einen weitgehend unstrukturierten Erfahrungsraum zur Verfügung stellt, einen Raum der tausend Möglichkeiten, in dem sich dann auch tausend unterschiedliche Wege zum Ziel finden lassen. Nämlich sich einem Ziel hinzugeben, bei dem es innen zu kribbeln beginnt. Ich bin nicht gegen Spielplätze, es gibt da auch wunderbare Entdeckungswelten. Aber wenn man in einem Waldstück Höhlen bauen kann, Behausungen bauen kann, sammeln gehen kann, jagen gehen kann, sich verstecken kann, klettern kann, Geheimnisse im Gestrüpp teilen kann, und und und – dann sieht man den Unterschied. Ich wünsche jedem Kind, ihn kennenzulernen.
In Ihrem Buch „Wie Kinder heute wachsen“ schreiben Sie sogar, Naturerfahrungen seien für Kinder so essentiell wie gute Ernährung. Heißt das, wer nicht Wald und Wiesen um sich herum hat, hat schlechte Karten?
Renz-Polster: Für Kinder ist Natur nicht nur, was grün ist und einen Himmel drüber hat. Auch eine alte Bühne kann „Natur“ sein – wenn Kinder dort die elementaren Erfahrungen machen können, zu denen es sie ja von innen heraus geradezu treibt: Sie wollen wirksam sein – dazu brauchen sie die Freiheit, sich Ziele setzen zu können und ihr Spiel selbst zu gestalten. Und sie suchen Widerstände, um Selbstständigkeit und Selbstkontrolle aufzubauen.
Solche Erfahrungen nennen Sie die „Quellen der kindlichen Entwicklung“. Aber wie steht es mit einem anderen wichtigen Ziel, nämlich Kindern Bildung zu vermitteln, und das möglichst früh?
Renz-Polster: Ich sehe die Pädagogik mit dem derzeitigen Bildungsbegriff in einer Sackgasse. Da geht es in meinen Augen viel zu sehr um die Vermittlung von Wissen und kognitiven Kompetenzen. Die Agenda der Kindheit ist aber viel breiter gefasst. Da geht es eigentlich darum, dass Kinder ganz elementare Fähigkeiten erwerben, die sie ein Leben lang tragen. Da müssen die Kinder lernen, sich selbst, ihre Emotionen in den Griff zu bekommen. Sie müssen lernen, mit anderen Menschen klar zu kommen, sich auch in andere hineinversetzen zu können. Auch Kreativität, Gestaltungskraft und innere Stärke gehörten schon immer zum natürlichen Lehrplan der Kindheit.
Aber ist nicht auch z. B. Medienkompetenz entscheidend für die Zukunft der Kinder?
Renz-Polster: Ach wissen Sie, das ist ja nichts Neues, Medien sind ja seit Hunderten von Jahren aus der Kindheit nicht wegzudenken, Bilderbücher, Bücher, Kassetten … Die Herausforderung war dabei immer die, dass der Mediengebrauch die kindliche Entwicklung begleitet und ergänzt und sich ihr nicht in den Weg stellt. Wir hatten diese Diskussion ja schon beim Fernsehen. Wir sind uns inzwischen einig, dass wir da gerade im Kleinkind- und Kindergartenalter vorsichtig sein müssen. Denn anders als bei den Bilderbüchern stellt sich dieses Medium ziemlich frontal den Beziehungen und dem menschlichen Austausch in den Weg.
Die Welt ist heute anders. Aber sie ist in einem gleich geblieben: Die Kinder werden ein gutes Fundament brauchen können. Wir wissen ja nicht einmal, wie diese Welt aussehen wird, in der sich unsere Kinder in 20, 30 Jahren einmal bewähren werden müssen. Wir wissen nur das: Sie werden viel davon haben, wenn sie in ihrer Kindheit gelernt haben, mit sich und den anderen gut klar zu kommen, selbstständig, stark und kreativ zu sein.
www.kinder-verstehen.de
Autor:Patricia Harant-Schagerl aus Niederösterreich | Kirche bunt |
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