Pfingstserie Teil 6 - Melanie Wolfers
Innehalten, um inneren Halt zu finden

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Was ist die größte Taste auf Ihrer PC-Tastatur?

Meist lautet die spontane Antwort: „Enter“ (vom Jesuiten Christian Marte gefragt, habe auch ich so geantwortet). Doch es ist die Leertaste! Welche Bedeutung dieser Taste zukommt, kann ein einfaches Gedankenexperiment verdeutlichen: Stellen Sie sich im Geist einen Text ohne Leerzeichen vor. Sie werden ihn vermutlich entziffern können, aber nur mit Mühe. Wir brauchen also die Zwischenräume und Unterbrechungen, um Texte lesen zu können – und das gilt nicht nur für Bücher, Artikel und Gedichte, sondern auch für unseren Lebenstext.

Um die eigene Lebensgeschichte lesen und in stimmiger Weise weiterschreiben zu können, gilt es zu pausieren. In dem Maß, in dem wir aus dem stetigen Strom an Erlebnissen immer mal wieder aussteigen und bei uns selbst einkehren, schaffen wir den Freiraum, um über uns und das Leben nachzudenken.

Mit diesen Überlegungen stoßen wir auf die Basisvoraussetzung, damit gelingen kann, was diese Artikelserie in Aussicht stellt: „Kraftvoll leben. Nimm der Ohnmacht ihre Macht“. Es bedarf einer bewussten Lebenskultur, um gut mit den Gefühlen von Ohnmacht und Hilflosigkeit umzugehen. Und um die inneren Kräfte – wie etwa Freude und Vertrauen – zu aktivieren, die uns in der Not tragen und positive Energien freisetzen. Ja, das Fundament unseres seelisch-geistigen Immunsystems liegt in einem bewussten Verhältnis zu uns selbst und dem Leben. Und daher ist es wichtig, sich regelmäßig Zeiten und Räume zu gönnen, um sich mit sich selbst zu verabreden.

WENN RUHE AUS DER RUHE BRINGT
Den umtriebigen Alltag so zu gestalten, dass man immer wieder neu den Kontakt mit sich sucht, ist jedoch alles andere als selbstverständlich. Zwar seufzen viele sehnsüchtig: „Hätte ich doch mehr Zeit für mich!“, doch häufig setzen sie ihren Wunsch nicht in die Tat um. Warum fällt es vielen so schwer, Stille und Alleinsein auszuhalten? Warum muss immer etwas gesagt oder getan werden, sobald es um einen ruhig wird?

Zum einen tragen verschiedene gesellschaftliche Hintergründe dazu bei – etwa das Credo unserer beschleunigten Gesellschaft: Zeit ist Geld. Entsprechend führen viele lieber ein Leben im pausenlosen Bereitschaftsmodus als den Eindruck zu vermitteln, sie würden ihre Zeit verplempern.

Zum anderen halten innerseelische Widerstände davon ab, sich mit sich selbst zu verabreden. Denn dann sind sie mit der Frage konfrontiert: Wer bin ich, wenn ich mit mir allein bin? – Eine gute und wichtige Frage! Doch viele scheuen vor einem Stelldichein mit sich selbst zurück. Denn wer weiß, ob ich da jemanden treffe, mit der oder dem ich gerne zusammen bin?!

TIEFER BLICKEN
Besonders intensiv kann man sich selbst und dem göttlichen Grund des Lebens begegnen, wenn die Stimmen um einen herum zum Schweigen kommen. Wenn man sich mit der Stille verabredet:

Eines Tages kamen einige Menschen zu einer Eremitin und fragten sie: „Was für einen Sinn hat es, dass du der Stille und Meditation so viel Zeit widmest?“

Die Eremitin schöpfte gerade Wasser aus einem tiefen Brunnen. Sie antwortete: „Blickt in den Brunnen. Was seht ihr?“ Die Leute schauten in den tiefen Brunnen: „Wir sehen Wellen!“

Nach einiger Zeit forderte die Eremitin sie erneut auf, in den Brunnen zu schauen: „Was seht ihr jetzt?“ Die Besucher blickten wieder hinunter: „Wir sehen uns selber.“ „Das lässt sich auch in der Stille und Meditation erfahren: Man sieht sich selber“, erläuterte die Frau und forderte sie auf, noch eine Weile zu warten.

Als die Gäste nach einiger Zeit wiederum in den Brunnen schauten, sagten sie: „Nun sehen wir die Steine auf dem Grund des Brunnens.“ Da erklärte die Eremitin: „Darin liegt das Geschenk von Stille und Meditation: Wenn man lange genug wartet, sieht man den Grund aller Dinge.“

In anschaulicher Weise verdeutlicht diese bekannte Weisheitsgeschichte, warum viele Menschen Stille auch als ein spirituelles Geschehen erleben. Es lässt sich vielleicht so beschreiben: Wartet man in der Stille lange genug, bis die inneren Stimmen verstummen, die einen aufwühlen, dann lässt sich bisweilen erleben: Ich kann einfach sein, ohne etwas leisten oder machen zu müssen. Nichts und niemand will etwas von mir – nicht einmal ich selbst. Eine friedvolle Stille breitet sich in mir aus. Ich vernehme mein eigenes Aufatmen. Und ich kann hören, wie das Gras wächst – ohne, dass ich etwas dazu beitragen muss, wie es Andreas Knapp formuliert.

Wer so in die Stille eintaucht, wird manchmal einen umfassenderen Grund erahnen, der alles trägt und hält. Und darin liegt nach meiner Erfahrung das tiefste Glück der Stille: Sie macht einen innewohnenden Grund wieder fühlbar und lässt diesen wirken. Und wer mit diesem Grund in Verbindung steht, erfährt Stimmigkeit und Sinn.

Eine solche Erfahrung, die sowohl Glaubende verschiedener Religionen machen als auch zahlreiche Menschen, die sich keiner Religion zugehörig fühlen – eine solche Erfahrung lässt sich kaum in Worte fassen. Ich persönlich bin dankbar, aus dem Reichtum der christlichen Spiritualität zu schöpfen. Wenn ich lange einfach nur auf die Stille höre, dann ahne ich manchmal, dass die Stille nicht leer ist. Sie ist vielmehr bewohnt. Ich spüre eine geheimnisvolle Gegenwart, in der ich daheim sein kann. Einfach so.

Was mich inspiriert: Das (vertonte) Gebet von Bruder Andreas Knapp:

Du in mir. Ich in Dir. Eins im Wir. Gott ist hier.

Aus: Melanie Wolfers, Nimm der Ohnmacht ihre Macht. Entdecke die Kraft, die in dir wohnt. bene! Verlag 2023, 180–192

Die Salvatorianerin Melanie Wolfers ist Seelsorgerin und Expertin für Lebensfragen und Spiritualität. In ihrer Pfingstserie zeigt die Bestseller-Autorin Hilfestellungen auf, sich von Ohnmachtsgefühlen in Krisenzeiten nicht lähmen zu lassen. Infos: www.melaniewolfers.at

MELANIE WOLFERS, SALVATORIANERIN | Foto: Ulrik Hölzel
Autor:

martinus Redaktion aus Burgenland | martinus

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