Buchneuerscheinung
Dokumente des Mutes und der Humanität
Im Mittelpunkt des neuen Sammelbandes „NS-Euthanasie: Wahrnehmungen – Reaktionen – Widerstand im kirchlichen und religiösen Kontext“ steht vor allem die Predigt des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen im Sommer 1941. Einen vertiefenden Blick gibt es aber auch auf die berühmte Predigt des St. Pöltner Bischofs Michael Memelauer zu Silvester 1941.
Im Sommer 1941 wurde die NS-Euthanasieaktion „T4“ gestoppt. In knapp zwei Jahren waren über 70.000 Menschen mit Behinderungen und psychischen Krankheiten Opfer dieses Programms geworden. Der Widerstand gegen diesen Massenmord wird häufig mit den Predigten des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen in Verbindung gebracht. Mit seiner Predigt am 3. August 1941 soll er wesentlich zur Einstellung des grausamen Mordens beigetragen haben. Aus diesem Anlass veröffentlichten der „Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim“ und das „Franz und Franziska Jägerstätter Institut“ den Sammelband „NS-Euthanasie: Wahrnehmungen – Reaktionen – Widerstand im kirchlichen und religiösen Kontext“, der sich den Reaktionen religiöser Menschen und der christlichen Kirchen auf die NS-Euthanasie widmet.
Statistisch gesehen waren in jeder Gemeinde NS-Euthanasie-Opfer zu verzeichnen.
Im Band wird die berühmte Rede des Münsteraner Bischofs rhetorisch analysiert, es werden die Hintergründe des bischöflichen Abwägens und Zögerns aufgezeigt, es wird dem Widerstand gegen die NS-Medizinverbrechen im Rheinland nachgegangen und u. a. auch die Reaktionen auf die NS-Euthanasie in den Diözesen Linz und St. Pölten zu den industriellen Morden erläutert. Das letzte Kapitel verfasste der Blindenmarkter Mag. Josef Wallner, Redakteur der Linzer Kirchenzeitung, der in akribischer Weise das Umfeld und die Hintergründe der „Euthanasie-Predigt“ des St. Pöltner Bischofs Michael Memelauer am Silvestertag 1941 beleuchtet und der Frage nachgeht, warum die so klaren Worte des St. Pöltner Bischofs kein „fassbares Echo“ zeitigten. „Weder innerhalb der Kirche noch bei den Nationalsozialisten.“
„Vor unserem Herrgott gibt es kein unwertes Leben“, hatte Memelauer in seiner Predigt gesagt. Dem vorausgegangen waren vor allem auch Beobachtungen und Erfahrungen in der eigenen Diözese: die Abtransporte der Patienten aus den Heil- und Pflegeanstalten Mauer-Öhling und Ybbs, die gehäuften Todesmeldungen aus dem gesamten Reichsgebiet an das Ordinariat, die vielen Urnenbegräbnisse und die NS-Euthanasieopfer unter den Priestern. Allein in Hartheim bei Linz waren zwischen Mai 1940 und August 1941 mehr als 18.000 Menschen, die zum Großteil aus den österreichischen Heil- und Pflegeeinrichtungen kamen, mittels Kohlenmonoxid ermordet und dann verbrannt worden, wie Wallner berichtet.
Der Journalist erwähnt in seinem Bericht so manchen dramatischen Eintrag oder erschütternde Erinnerung. Wie z. B. jenen vom damaligen Ordinariatssekretär und späteren „Kirche bunt“-Chefredakteur Franz Willinger, der in den 1980er-Jahren schrieb: „Die Häufung von Aktenläufen über unheilbar Kranke, Geistesgestörte und Behinderte fiel uns immer stärker auf. Solche Menschen wurden ins ‚Altreich‘ verlegt, sehr oft in die Gegend von Augsburg. Pfleglinge der Heilanstalt in Mauer-Öhling waren in größerer Zahl darunter. Monate später wussten wir, was mit ihnen geschah: Es kamen an uns Todesmeldungen, die wir an die Geburtspfarre weiterleiten sollten, damit sie dort im Taufbuch vermerkt würden. Die Hitler ergebenen Ärzte begannen, ‚unwertes‘ Leben zu töten.“
Ein Eintrag in der Pfarrchronik Thaya zeigt, dass nicht nur die Bevölkerung rund um die „Anstalten“ in Mauer-Öhling oder Ybbs von den Vorgängen wusste. Da heißt es wörtlich: „Die Gattin des hiesigen Malermeisters Vinzenz Kainz, namens Leopoldine, war wegen Schwachsinn im Siechenhause zu Hartheim, Gemeinde Alkhoven bei Linz. Sie starb dort – oder wurde gestorben –, und ihr Leichnam wurde von der Anstaltsleitung verbrannt. Die Aschenurne wurde an die hiesige Friedhofsverwaltung gesendet. Was oder wessen Asche in der Urne wirklich ist, weiß kein Mensch. So enden Zehntausende armer Kranker gegen ihren und der Verwandten Willen im Feuerofen [...]“
Die Todesnachricht an die Angehörigen schloss die Information mit ein, dass man die Urne mit der Asche der Verstorbenen anfordern könne. Wallner: „Statistisch gesehen waren in jeder Gemeinde NS-Euthanasie-Opfer zu verzeichnen, und – auch wenn es dazu keine Zahlen gibt – war auch jede Pfarre mit einem oder mehreren Urnenbegräbnissen konfrontiert.“ Das brachte Aufregung und Verwirrung, denn grundsätzlich galt für Katholiken damals das Verbot der Leichenverbrennung. Die bischöfliche Verwaltung reagierte schnell, berichtet der Journalist. In Linz stand im Diözesanblatt vom 1. Juli 1940 die entsprechende Weisung mit dem Vermerk: „Weil anzunehmen war, dass die Einäscherungen ohne oder gegen den Willen der Verstorbenen vorgenommen wurden, dürfen die Aschenurnen von einem Priester bestattet werden…“ Die Diözese St. Pölten veröffentlichte das Dekret am 16. September 1940.
In seiner Analyse der Silvesterpredigt Memelauers schreibt Josef Wallner: „Die Grundmelodie, die die gesamte Predigt durchzieht, ist die Liebe Gottes, die jedes Leben umfängt: von der Geburt bis zum Tod.“ Dass es darauf praktisch keine Reaktion gab, bleibt wohl ein Rätsel. Die „nicht greifbare Rezeption“ mache die Predigt aber nicht unbedeutend, so Wallner. „Jedes Zeugnis, das auf uns zukam, ist nicht hoch genug zu bewerten. Es sind dies Dokumente des Mutes und der Humanität.“ Regisseurin Anita Lackenberger hat das Leben Memelauers verfilmt. Die DVD „Das Land, der Bischof und das Böse“ kann im Diözesanarchiv erworben werden, Tel.: 02742/324 - 321.
Verena Lorber/Andreas Schmoller/Florian Schwanninger (Hg.), NS-Euthanasie: Wahrnehmungen – Reaktionen – Widerstand im kirchlichen und religiösen Kontext. Innsbruck – Wien: Studienverlag 2021, 162 Seiten, € 19,90. ISBN 978-3-7065-6176-1
Autor:Sonja Planitzer aus Niederösterreich | Kirche bunt |
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