Interview
Verbundenheit finden, die dem Leben Sinn gibt
Verbundenheit und Nähe zu anderen sind Grundbedürfnisse jedes Menschen. Wie wir in einer vereinzelten Gesellschaft zu mehr Miteinander und „Wir“ kommen, beschreibt die Dominikanerin Sr. Teresa Hieslmayr im Gespräch mit „Kirche bunt“.
Was hat Sie – als Ordensfrau und Psychotherapeutin – motiviert, ein Buch über Verbundenheit zu schreiben?
Sr. Teresa Hieslmayr: Ich bin in den letzten Jahren zu der Überzeugung gekommen, dass, wenn man die Welt nicht aus dem „Ich“, sondern aus dem „Wir“ heraus versteht, das Leben insgesamt viel mehr Sinn macht. Viele scheinbar unbeantwortbare Fragen lassen sich daraus beantworten. Diese Erfahrung möchte ich mit anderen teilen.
Sie schreiben, dass in unserer Gesellschaft das „Ich“ Vorrang hat vor dem „Wir“. Woran machen Sie das fest?
Sr. Teresa: Schon in der Sprache überwiegt das Ich oder Es als Ausdrucksform gegenüber dem Wir. Wir fragen uns: Was bedeutet ein Ereignis für mich? Selten stellen wir uns die Frage: Was bedeutet es für uns? Mir fehlt an vielen Stellen der Blick darauf, welche Auswirkungen eine Entscheidung oder ein Ereignis auf die Gemeinschaft und das große Ganze hat.
Im Buch erwähne ich als Beispiel für den Vorrang des „Ich“ den Selfie-Stick: Ich möchte von mir selbst ein Foto machen können, ohne jemand anderen bitten zu müssen. Auch an der Theologie ist die Ich-Fokussierung nicht spurlos vorübergegangen: Im Vordergrund steht nicht das gemeinsame Projekt eines „Reich Gottes“, sondern die Frage nach dem persönlichen Heil.
Tragen Soziale Medien zur Vereinzelung bei?
Sr. Teresa: Ich habe erlebt, dass Menschen vermisste Freunde oder Familienmitglieder wieder gefunden haben. In Klassengruppen können sich Schüler und Schülerinnen untereinander helfen. Soziale Medien kann man als Werkzeug sehr wohl für das Miteinander einsetzen.
Die Digitalisierung trägt aber auch zur Vereinzelung bei. Menschen werden von Geräten ersetzt, und als Folge brauchen wir einander zu vielen Tätigkeiten nicht mehr. Was früher die Bankangestellte erledigte, macht heute der Automat.
Hatte die Corona-Pandemie Auswirkungen auf das Miteinander in der Pfarre?
Sr. Teresa: In und vor allem nach der Corona-Pandemie hat sich herauskristallisiert, was den Leuten wirklich wichtig und wertvoll ist. Wo Menschen begeistert dahinterstehen, das ist danach wieder erstanden.
Warum bevorzugen etliche Menschen den Fernsehgottesdienst? Diese Gottesdienste sind immer liebevoll vorbereitet. Es gibt qualitätvolle Musik, für die Predigt hat sich jemand viel überlegt. Das ist eine Anfrage an uns: Wie gestalten wir Gottesdienste? Wie gestalten wir Kirchenräume?
Gottesdienst schafft Gemeinschaft.
Sr. Teresa: Das stimmt leider oft nur in der Theorie. Viele Menschen erleben das nicht so. Auch darin sehe ich eine Anfrage an uns: Wie gestalten wir Gottesdienste so, dass Glaubensgemeinschaft darin erlebbar ist? Die Sehnsucht nach Räumen für Spiritualität ist groß. In unserem Exerzitienhaus waren wir nach jedem Lockdown am Tag 1 belegt; bis jetzt haben wir mehr Anfragen als vor der Pandemie. Die Leute suchen nach qualitätsvoller Nahrung für die Seele.
Was zeichnet die Gemeinschaft der Christen aus – im Vergleich z. B. mit einem Sportverein?
Sr. Teresa: Ich könnte jetzt provokant sein und sagen: Von außen betrachtet ist das Besondere an der katholischen Kirche, dass sie besonders diskriminierend und frauenfeindlich ist. Zumindest in ihren Strukturen.
Aus theologischer Perspektive verbindet uns Christen und Christinnen ein gemeinsames Fundament und ein gemeinsames Ziel, also etwas Existentielles im Leben. Was uns weiters auszeichnen könnte – als Ideal formuliert – sind Barmherzigkeit, Vergebung im Umgang miteinander und der zwecklose, nicht leistungsorientierte Blick aufeinander, auch auf uns selbst. Das Wissen darum, dass jede von uns ein Geschöpf Gottes ist, könnte das Zusammenleben prägen. Ich persönlich darf erleben, dass dieses Ideal auch manchmal wirklich wird.
Was kann jeder Mensch dazu beitragen, dass Gemeinschaft entsteht und dass sie erhalten bleibt?
Sr. Teresa: Grundlage ist, dass wir uns bewusst sind, dass wir Menschen grundsätzlich gleichwertig, auf einer Ebene sind. Das impliziert unter anderem, dass wir uns alle irren können. Wenn ich die Möglichkeit des Irrtums mir und dem anderen einräume, entschärft sich der Streit ums Rechthaben. Für diese Haltung braucht es aber, etwas altmodisch gesprochen, die Tugend der Demut.
In der Pfarre braucht es Menschen, vor allem in Leitungspositionen, die auf andere interessiert zugehen und fragen: Wie geht es dir? Was brauchst du, was braucht ihr?Uns Christen verbindet etwas Existentielles im Leben.
Wie gelingt es einsamen Menschen, zum Miteinander zu finden?
Sr. Teresa: In der Psychotherapie erlebt der Patient, die Patientin, dass er bzw. sie nicht einsam ist. Als Psychotherapeutin stehe ich ganz an seiner bzw. ihrer Seite: „Ich helfe zu dir, weil ich dich verstehe!“ Das ist eine ganz wichtige Erfahrung für einen einsamen Menschen – es baut das meist durch die Einsamkeit beeinträchtigte Selbstwertgefühl auf.
Wir machen uns auch auf die Suche nach Gegenerfahrungen zur Einsamkeit: der freundliche Gruß an der Kassa oder die höfliche Dame am Schalter. Diese Erfahrungen können Sicherheit und Mut schenken zum Gespräch mit anderen Menschen. Auch ein soziales Engagement kann zum Miteinander führen und Sinn im Leben schenken.
Interview: Patricia Harant-Schagerl
Teresa Hieslmayr, Wege zum Miteinander – Aus dem Erfahrungsschatz einer Psychotherapeutin und Ordensfrau. Tyrolia Verlag 2024, Hardcover, Preis 20 Euro.
Autor:Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt |
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