Erzählung
Die Spur des Bleistifts

Foto: Karramba Production – stock.adobe.com

Beim Treffen unserer Maturaklasse wurde wie immer die Zeit zu kurz. Auch einige Lehrkräfte zeigten durch ihr Kommen, dass sie uns noch nicht vergessen hatten. Manche sind inzwischen leider nicht mehr am Leben. Und auch die „8C“ von einst ist nicht mehr die jüngste, obwohl bei diesen raren Zusammenkünften der zeitliche Abstand wenig Rolle zu spielen scheint.
Ein Klassenkollege hatte sogar schon den „Ruhestand“ angetreten, einer, der berufsbedingt fast immer unterwegs war und von einer Me­t­ropole zur nächsten flog. In meiner Erinnerung gehörte er zu denen, die nie durch schlechte Leistungen hervorstachen, liebenswürdig, anteilnehmend, kollegial, aber doch auch selten der Vorzeige- und Musterschüler. Jetzt erzählte er, er sei sehr ehrgeizig gewesen und wollte immer zu den Besten gehören. Nach so vielen Jahren sind Rivalitäten dieser Art zum Glück längst verflogen und das Maturazeugnis hat sich nicht als Gradmesser und Wegweiser für die spätere berufliche Laufbahn herausgestellt.
Mein Maturakollege erzählte nun, er habe sich als Schüler mit dem Zeichnen schwer getan. Erst kurz vor dem Treffen hatte mein schulischer „Leidensgenosse“ einen – englischsprachigen – Malkurs besucht. Der Leiter merkte wohl seine Schwachstelle und sagte zu ihm: „Let the pencil follow its way!“ – „Lass den Bleistift seinem Weg folgen!“ Und plötzlich ging es wie von selbst. Die Hand folgt dem Bleistift, nicht umgekehrt! Warum sind wir da nicht früher draufgekommen?
Oft genug bemühen wir uns krampfhaft um etwas und kommen doch nicht so recht voran. Gerade beim Lernen führt der gute Wille allein noch nicht zum Ziel. Und mit Zwang gelingt erst recht nichts. Hermann Hesse hat es poetisch ausgedrückt: „Solang du nach dem Glücke jagst, bist du nicht reif zum Glücklichsein.“ Und auch Rainer Maria Rilke weiß: „Das Ewige und Ungemeine will nicht von uns gebogen sein.“ Vielleicht sollten wir öfter die Perspektive umkehren und etwas geschehen lassen, anstatt alles nach unserer Vorstellung hinbiegen zu wollen. Und das nicht erst, wenn der größte Teil unseres (Berufs-)Lebens schon hinter uns ist.
Oder anders gesagt: Ob das Bild meines Lebens ein unbeholfenes Gekritzel wird oder doch ein unverwechselbares Kunstwerk, entscheidet sich daran, ob ich meinen eigenen Kopf durchsetzen will oder ob ich mich der Hand eines größeren Künstlers anvertraue. Leopold Schlager

Autor:

Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt

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